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Tradition gegen Toleranz

In der litauischen Hauptstadt Vilnius wollen rund 800 Menschen für mehr Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten demonstrieren. Die Erlaubnis für die Parade musste vor Gericht verhandelt werden - nirgendwo sonst in Europa sind die Vorbehalte gegenüber Homosexuellen so groß wie in Litauen.

Von Sabine Adler | 27.07.2013
    Spannung herrscht in Litauens Hauptstadt Vilnius. Wird die Baltic Pride, die Parade von Schwulen und Lesben aus Litauen, Lettland und Estland, ungestört durch die Hauptstadt ziehen können oder wird es wieder massive Proteste geben?

    Litauen trägt die rote Laterne, ist laut einer EU-Statistik Schlusslicht bei der Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. 600.000 Bürger haben ihr Land verlassen, einige wohl für immer, was Johanna Keller vom Goethe-Institut in Vilnius auch mit der mangelnden Offenheit begründet.

    "Die, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung emigrieren, haben in der Regel keine enge Bindung mehr zu ihrem Land und haben auch keinen Anreiz, zurückzukommen."

    Daran dürften auch die Baltic Pride sowie das vom Goethe-Institut mitorganisierte Filmfestival "Anderes Kino" wenig ändern, denn wieder einmal tut sich Litauen schwer mit der Schwulen- und Lesben-Parade. Kann sie überhaupt stattfinden, fragten sich die Organisatoren und erhielten erst Anfang der Woche die Erlaubnis, einschließlich der Genehmigung, den Marsch über die wichtigste Straße mitten im Stadtzentrum zu führen. Weil die Stadt die Parade nicht wollte, war der Fall vor Gericht gelandet. Der Sprecher des Verbandes der litauischen Schwulen und Lesben, Thomas Raskevicius, freute sich über die Gerichtsentscheidung.

    "Dieser Sieg zeigt, dass die Homosexuellen Bürger dieser Gesellschaft sind mit den gleichen Rechten. Wenn es anderen Gruppen erlaubt ist, ihre Märsche über die Gediminas Avenue zu lenken, dann muss das bei der Gemeinde der Schwulen und Lesben ebenso der Fall sein."

    Obwohl die Baltic-Pride-Parade nur alle drei Jahre in Vilnius stattfindet, weil sie zusammen mit Riga und Tallin im Rotationsprinzip veranstaltet wird, tat sich die Stadtverwaltung schwer. Purer Populismus, unterstellt Gediminas Pranevicius. Der Anwalt vertritt eine Werbeagentur, die mit einer Toleranz-Kampagne das Anliegen der Parade unterstützt, ohne ausdrücklich für sie zu werben. Das zentrale Motiv - ein Herz in Regenbogenfarben - soll jetzt weichen, fordert der Bürgermeister, der die Homophobie vieler Landsleute kenne und sie sich zunutze mache. Gediminas Pranevicius:

    "Die Stadtverwaltung ging ziemlich aggressiv gegen die Parade vor. So gerieten wir in ihren Fokus. Und unser Herz in Regenbogenfarben mit dem Spruch: Liebe ist ein Menschenrecht. Eigentlich doch ziemlich neutral. Sie warfen uns unerlaubte Außenwerbung vor, aber wir hatten eine Erlaubnis. Die Sache ist immer noch nicht zu Ende."

    Skepsis gegenüber Fremdem, Festhalten an den Traditionen - so erklärt sich Anwalt Pranecivius die weitverbreiteten Vorbehalte gegen Homosexuelle. Thomas Raskevicius vom Schwulen- und Lesbenverband ergänzt:

    "Zu Sowjetzeiten gab es keinen Diskurs über alles, was die sexuelle Orientierung betraf. Es gab keine Informationen. Veranstaltungen wie die Parade sollen die Aufmerksamkeit darauf lenken, die Auseinandersetzung herbeiführen, damit die Gesellschaft einen anderen Zugang zu solchen Fragen bekommt."

    Johanna Keller, die Leiterin des Goethe-Instituts in der litauischen Hauptstadt, verweist auf die Verunsicherung durch den stetigen Bevölkerungsrückgang, den Lettland, und Estland, wie auch Litauen verzeichnen.

    "Seit der Unabhängigkeit hat Litauen 600.000 Bürger verloren, bei der letzten Volkszählung war die Bevölkerungszahl zum ersten Mal unter der psychologisch wichtigen 3-Millionen-Marke. Sie sank auf rund 2,9 Millionen. Das war ein Signal, das es bestimmten Kräften in der Bevölkerung leichter macht, ihre Besorgnis ob des Fortbestands der litauischen Nation, der litauischen Sprache, der Familie zu äußern."

    Wenn Konservative, einschließlich der Katholischen Kirche, fordern, lieber Familien zu gründen als der eigenen Befindlichkeit nachzuspüren, empfiehlt Thomas Raskevicius in Länder zu schauen, in denen Schwule und Lesben gleichberechtigt sind und deren Bevölkerung dennoch wächst.

    Waren es vor drei Jahren nur 200 Aktivisten, werden für heute 800 erwartet. Aus Sorge vor Übergriffen wird den Teilnehmern empfohlen, Plakate oder Anstecker erst auf der zugelassenen Marschroute sichtbar zu tragen. Zäune und Polizisten hatten 2010 die rund 2000 wütenden Gegendemonstranten zurückgehalten. Ein ähnliches Bild heute würde kein gutes Licht auf Litauen werfen, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat.