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Traditionen
Voodoo auf Haiti bleibt lebendig

In Haiti ist der Voodoo-Kult immer noch allgegenwärtig. Daran konnten auch die intensiven Missionskampagnen von Evangelikalen aus Nordamerika nichts ändern, die nach dem Erdbeben von 2010 nach Haiti kamen und propagierten, Voodoo sei schuld an der Katastrophe. Für die meisten Haitianer bleibt der Kult Voodoo mit ihrer historischen Identität verbunden.

Von Hans Christoph Buch | 20.01.2015
    Zwei Haitianer haben sich das Gesicht weiß gepudert, um so das traditionelle Totenfest zu feiern.
    Beim traditionellen Totenfest auf Haiti pudern sich die sogenannten Gedes das Gesicht weiß und ziehen durch die Straßen. (picture alliance / dpa / Aude Osnowycz / wostok Press)
    Die Geschichte Haitis beginnt mit einer Szene, deren Beschreibung bis heute zur Pflichtlektüre an allen Schulen des Landes gehört.
    In der Nacht des 14. August 1791 versammelt der Voodoo-Priester Boukman in Bois Caiman in Haiti eine große Menge von Sklaven, um von ihnen absolute Ergebenheit einzufordern. Als alle vollzählig sind, bricht ein Orkan aus. Zuckende Blitze beleuchten die schnell ziehenden Wolken, und der Boden wird von sturzbachartigem Regen überschwemmt. Während Äste von Bäumen mit Getöse niederprasseln, beginnt eine alte Frau zu singen. Sie dreht sich dabei um sich selbst und wirbelt mit einem Buschmesser über ihrem Kopf. Ein lebendes Schwein wird hereingetragen. Mit einer heftigen Bewegung sticht sie ihm ihr Messer in die Kehle. Das dampfende Blut wird in einem Behälter aufgefangen und herum gereicht, damit alle davon trinken können. Die versammelten Sklaven schwören Boukman in dieser Nacht treue Gefolgschaft.
    "Der Gott, der die Sonne gemacht hat und uns Licht schenkt, der das Meer aufwühlt und den Sturm heulen lässt. Dieser Gott führt uns und hilft uns. Werft also das Bild des weißen Gottes weg, der durstig ist auf das Wasser eurer Augen. Hört nun auf die Stimme der Freiheit, die aus unseren Herzen spricht!"
    Kampf für die Freiheit
    Ob diese religiöse Zeremonie tatsächlich so oder ähnlich stattgefunden hat, darüber streiten bis heute die Historiker. Unstrittig aber ist, dass im August 1791 der Sklavenaufstand in Haiti begonnen hat. Es war ein bewaffneter Kampf, mit dem sich die Sklaven selbst befreit haben und der schließlich zur Gründung der Republik Haiti führte. Dem einzigen Staat der Welt, der aus einer Sklavenrevolte hervorgegangen ist.
    Der Aufstand, der von den Ideen der Französischen Revolution beflügelt gewesen war, lehrte damals die Kolonialmächte das Fürchten. Denn neben der Revolte im eigenen Land unterstützte Haiti den Freiheitskampf Simón Bolivars in Lateinamerika mit Waffen und Geld. Dass in den Chroniken über den Beginn des Sklavenaufstandes ein Voodoo-Ritual erwähnt wird, zeigt, wie stark die aus Afrika stammenden Sklaven noch mit den religiösen und spirituellen Wurzeln ihres Herkunftskontinents verbunden waren.
    Da die Sklaven aus weit voneinander entfernten Regionen Afrikas stammten, war der Voodoo-Kult das, was sie miteinander verbunden hat. Voodoo war sozusagen der gemeinsame Nenner der Solidarität unter den schwarzen Sklaven. Dazu der haitianische Soziologe und Voodoo-Forscher Laennec Hurbon.
    "Schon zu Beginn des Befreiungskampfes, bei der Sklavenrevolte von 1791, die ja mit einer Voodoo-Zeremonie von Bois Caiman begann, verbündeten sich die damaligen Sklaven, die späteren Haitianer, auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Herkunft, Geschichte und Kultur aus Afrika."
    Voodoo als afrikanisches Erbe
    Die überlieferten Traditionen und Rituale aus Afrika haben sich dann bei den Sklaven in der Karibik und Lateinamerika weiter entwickelt. Der Voodoo-Kult wird in Kuba Santería und in Brasilien Macumba oder Candomblé genannt. In der katholisch geprägten Umgebung der Kolonialzeit, in der die Sklaven selbstverständlich zum Christentum übertreten mussten, bekamen viele der traditionellen Gottheiten des Voodoo nun zusätzlich auch noch eine ganz neue Rolle zugewiesen.
    "Diese Gottheiten, die ja unsichtbare Geister sind, hat man mit den christlichen Heiligenfiguren verbunden. So wurde der Voodoo-Kriegsgott Ogoun Ferraille zum Beispiel mit dem Heiligen Jakob identifiziert, die Jungfrau Maria mit der Liebesgöttin Erzulie, und so weiter. Fast alle Voodoo-Gottheiten entsprechen katholischen Heiligen."
    Auf diese Weise konnte man in der Öffentlichkeit vor den Vertretern der katholischen Kirche und den Kolonialherren demonstrativ am christlichen Heiligenkult teilnehmen, aber mit den Heiligenfiguren verehrte man tatsächlich die traditionellen Voodoo-Gottheiten.
    So konnte der Voodoo-Kult, den die Sklaven einst aus Afrika mitgebracht hatten, verborgen im christlichen Heiligenkult, die Zeit der Kolonialherrschaft überleben. Bis heute ist Voodoo in Haiti lebendig und allgegenwärtig. Und es gibt auch besondere Höhepunkte im Laufe des Jahres mit großen Prozessionen.
    Voodoo und Karneval
    In Jacmel, einer Hafenstadt im Süden Haitis, wo die Zeit stillzustehen scheint, gehen im Februar Voodoo und Karneval eine unauflösliche Verbindung ein, in der das närrische Treiben über die Stränge schlägt. Ein anderer Höhepunkt im Jahr findet im November statt.
    Denn dann sind die Toten in den Straßen unterwegs. Es sind natürlich keine Zombies, also lebende Tote, die aus den Gräbern auferstehen, sondern sogenannte Gédés, mit weißem Puder bestäubte junge Männer und Frauen, die halb oder ganz nackt durch die Straßen ziehen und mit obszönen Gesten Passanten behelligen und sich nicht selten auch als Taschendiebe betätigen.
    In diesen Tagen wird deutlich, dass in Haiti Leben und Tod, Gegenwart und Vergangenheit nicht voneinander getrennt sind. Beide Bereiche gehen sozusagen ohne Grenzlinie ineinander über. Und dazu gehört dann eben auch die Vorstellung, dass die Toten Durst haben, deshalb versprühen die Gédés, die von singenden und tanzenden Voodoo-Priestern angeführt werden, Zuckerrohrschnaps.
    Außerdem zeichnen die Gédés zur Ehre von Papa Legba, dem sogenannten Herrn der Türschwellen, geometrische Muster auf den Asphalt. Denn Legba öffnet nach der Voodoo-Vorstellung das Tor, das das Reich der Toten mit dem der Lebenden verbindet.
    Der Voodoo-Kult kennt keine festgelegte Liturgie und ist vor allem ein getanztes und gesungenes Ritual - allein die Rhythmen der Trommel sind vorgeschrieben.
    Ein Höhepunkt der Voodoo-Prozession im November findet auf dem Friedhof statt. Hier huldigen die Gédés dem Totengott Baron Samstag. Man stellt ein schwarzlackiertes, mannshohes Holzkreuz auf, um das man Knochensplitter und Glasscherben verstreut. Anschließend tanzen die versammelten Gédés darauf barfuß zu Ehren von Baron Samedi und seiner Frau Grande Brigitte.
    Gedenken an die Toten
    Und wie auf dem Höhepunkt jeder Voodoo-Zeremonie geraten auch hier viele Gläubige in Trance, reden in Zungen und wälzen sich am Boden, während ein Gott oder Geist von ihnen Besitz ergreift.
    Auch einer, den man hier Monsieur Véa nennt, beginnt zu sprechen, als rede er in Zungen. Er gerät zwar nicht in Trance, aber er scheint diesem Zustand ziemlich nahe zu sein. Und auf seine eigene Art erklärt er den anwesenden Ausländern die Bedeutung dieser Totenzeremonien:
    "Also, wie sie wissen, gibt es in den Vereinigten Staaten Halloween, aber wir feiern nicht Halloween, sondern gedenken der Toten - das ist etwas anderes. Wir erinnern uns verstorbener Angehöriger, reinigen ihre Gräber und sprechen mit den Vorfahren, die uns in die Welt gesetzt haben. 'Mama und Papa, ihr seid von uns gegangen und habt uns allein gelassen! Habt ihr uns vergessen? Nein, ich weiß, dass ihr uns nicht vergesst.' Also das glauben wir, weil wir Schwarze sind und aus Afrika kommen. Niemand kann uns das nehmen."
    Dann fängt er an zu singen. Er bittet Papa Legba, den Herrn der Türschwellen, die Begegnung mit den Toten möglich zu machen. Aber Monsieur Véa legt Wert darauf, dass sie heute alle Haitianer sind, ganz gleich woher die Vorfahren ursprünglich aus Afrika stammten.
    "Ich will erklären, wer wir Haitianer sind. Selbst wenn wir es verbergen und nicht zugeben wollen, wir werden nie wirklich Christen sein. Wir bleiben immer Haitianer und mit dem Voodoo verbunden. Wir sind hier alle Voodoo-gläubig."
    Voodoo im Alltag
    Die Voodoo-Gläubigkeit ist für die Anhänger dieses Kultes nicht nur während der Zeremonien von Bedeutung, sondern sie spielt durchaus auch im alltäglichen Leben eine Rolle. Denn jeder Voodoo-Adept "dient"einem Gott oder Geist, der ihm im Traum Ratschläge geben oder Befehle erteilen kann. Der kann ihm zum Beispiel auch die Gewinnzahlen beim Lotto verraten oder ihm zum Liebesglück verhelfen.
    Auch die weiße Magie mit ihren Wunderheilungen oder die schwarze Magie mit ihrem Schadenzauber, wie etwa die mit Nadeln durchbohrten Puppen, mit denen man jemanden etwas Schlechtes wünscht, gehören zum Voodoo.
    Die weiße und schwarze Magie sind dabei wie zwei Seiten einer Medaille. Denn wie bei den Griechen der Antike sind die Götter mal gnädig, mal voller Zorn, und anders als zum Beispiel im Christentum werden Gut und Böse nicht strikt voneinander getrennt.
    Anfang 2010 gab es in Haiti ein schweres Erdbeben mit 300.000 Toten. Von Not und Elend im Land angelockt, kamen Missionare und Tele-Evangelisten aus Nordamerika und predigten nun, der Voodoo-Kult sei schuld an der Katastrophe, und viele Voodoo-Priester wurden von der aufgehetzten Menge gelyncht.
    Heute haben die Evangelikalen mehr Einfluss als die katholische Kirche. Und das bedeutend auch einen zunehmenden Kreuzzug gegen Voodoo.
    "Die Evangelikalen sind extrem intolerant gegenüber dem Voodoo-Kult. Nach dem Erdbeben gab es eine echte Invasion evangelikaler Sekten, die über erhebliche Geldmittel verfügen und Versammlungen in Fußballstadien abhielten, um den Leuten einzureden, der Voodoo sei schuld an ihrer Misere. Und da Haiti in einer Voodoo-Zeremonie geboren wurde, war schon der Sklavenaufstand von 1791 aus der Sicht evangelikaler Missionare ein Pakt mit dem Teufel. Unglaublich. Sie werfen Haiti letztlich sogar vor, dass sich hier die Sklaven einmal selbst befreit und ihre Unabhängigkeit erkämpft haben."