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Träume im Leipziger Wendeherbst

In seinem Erstlingswerk "Als wir träumten" berichtet Clemens Meyer von biografischen Umbrüchen in politischen Umbruchzeiten. Während der politischen Wende werden aus Leipziger Kindern allmählich Halbstarke, die sich wehren – gegen die Eltern, die Schule, gegen eine Gesellschaft, die für sie keinen Platz vorgesehen hat. Meyer ist seinen Protagonisten in Sympathie verbunden.

Von Mechthild Müser | 23.03.2006
    Sein Kopf spielt verrückt wegen all der Erinnerungen, und deshalb muss Danie sie erzählen, die Geschichten von damals, als er 15-jährig noch zu den Halbstarken gehörte, als seine DDR-Kindheit und Jugend plötzlich in ein wiedervereinigtes Deutschland mündete, als es bunte Autos gab und Holsten Pilsener, Sexfilme und Jägermeister und Drogen. All die Träume und Albträume.

    Danie und seine Freunde Rico, Fred, Mark, Pitbull, Walter und Paul leben fernab des Stadtzentrums in Leipzig Südost. Da, wo sie zu Hause sind, gibt es keine Geborgenheit, nicht im Erziehungsheim und nicht in den Wohnungen, wo ihre Mütter und Väter trinken, sich streiten und die Kinder prügeln. Die Jungen fühlen sich stark, wenn sie Bierkästen aus dem Hof der Brauerei klauen und saufen, wenn sie Autos knacken und ziellos durch die Gegend fahren, wenn sie randalieren, ihre Fäuste gegen die rechten "Glatzen" einsetzen oder im Kino onanieren.

    "Es gibt keine Nacht, in dem ich nicht von all dem träume, und jeden Tag tanzen die Erinnerungen in meinem Kopf, und ich quäle mich mit der Frage, warum das alles so gekommen ist. Sicher, wir hatten eine Menge Spaß damals, und doch war bei dem, was wir taten, eine Art Verlorenheit in uns, die ich schwer erklären kann."

    Autor Clemens Meyer, 1977 in Halle an der Saale geboren, sprintet durch die Jahre, die vor der Wende und die nach der Wende, hin und her, so wie Gedanken eben laufen, von Ereignis zu Ereignis, chronologische Reihenfolgen außer acht lassend. Er ist seinen Protagonisten in Sympathie verbunden, obwohl sie es nicht weiter bringen als in den Jugendarrest, den Knast und die Entzugsanstalt. Er lässt sie cool sein und doch die eigene Feigheit wahrnehmen, er lässt ihnen ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben und gibt sie nicht der Lächerlichkeit preis.

    "Als wir träumten" ist Meyers Debütroman und gleichzeitig seine Abschlussarbeit am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Der Autor ist jung, er hat selbst nach dem Abitur auf dem Bau, als Möbelträger und als Wachmann gearbeitet, und sicher kommt das seinem Schreiben zugute. Er ist dicht bei seinen Figuren, schmuggelt keine sozialkritischen Untertöne ein, keinen erhobenen Zeigefinger, keine regimekritische Schelte. Er beobachtet, aber bewertet nicht, und erwähnt nicht einmal die Warte, von der aus Ich-Erzähler Danie seine Erinnerungen Revue passieren lässt.

    Die großen Montagsdemonstrationen, das Glockenläuten, die Rufe "Wir sind das Volk", die politische Wende, nehmen die Jugendlichen erstaunt zur Kenntnis. Sie verstehen nicht, um was es geht.

    "'Da müssen wir doch wenigstens mal gucken', sagte Mark. 'Aber die vielen Bullen…' 'Gerade deswegen Danie', sagte Rico, 'da ist was los, verstehste, da ist richtig was los.' 'Aber das ist doch Kirche, das ist doch von den Kirchenspinnern.' 'Kann schon sein, Danie. Aber wenn die marschieren, da ist mächtig was los.' 'Klar', sagte Mark, 'Ich habs im Fernsehen gesehen, viele Weiber dort, da ist Gedränge, da kannst du denen an die Titten und so.'"

    Der politische Umbruch ändert wenig am Lebensalltag der Gang. Zwar gibt es keine staatlich verordneten Manöver- und Katastrophenübungen mehr, wo die Jungen in der Lehrstunde für Minenentschärfung unter Aufsicht eines Lehrers vorsichtig aufgeblasene Luftballons aus nägelgespickten Kartons zogen oder von einer Mund-zu-Mund-Beatmung mit dem begehrtesten Mädchen träumten. Aber sie sind nicht weniger desorientiert als vorher. Ihre Kämpfe gegen andere Banden jenseits ihres eng abgesteckten Reviers werden brutaler, weil sie älter und kräftiger sind. Die Jungen lieben Fußball- und Boxkampfübertragungen im Fernsehen, sie halten zu den Verlierern und träumen wie diese von eigenen Siegen - vor allem Rico, der selbst im Ring gestanden und die besten Amateure seiner Gewichtsklasse geschlagen hatte, bis auf einen. Diesen letzten Kampf durchleben Danie und Rico neu vor der Mattscheibe in ihrer Stammkneipe.

    Hier ist Clemens Meyer ein großartiges Kapitel gelungen, nicht nur, weil er im Boxsport bestens bewandert ist, sondern weil er es schafft, den Fernsehkampf deckungsgleich mit Ricos verheerendem Trauma zu erzählen. Wie in filmischen Überblendungen wechselt Meyer mühelos die Ebenen, gleitet von der Boxkampfübertragung immer wieder hinüber in Ricos Glanzzeit und schließlich in sein elendes Scheitern.
    Nur einmal gelingt es der Gang, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen, etwas, womit sie sich identifizieren, in das sie Arbeit stecken: sie eröffnen eine Diskothek in einer leer stehenden Getriebefabrik. Sie nennen sie "Eastside", verteilen Handzettel in Plattenläden und Kneipen, legen Techno-Musik auf und besorgen Getränke.

    "Auch jetzt träume ich oft von der Eastside und der Zeit damals, und es scheint mir, obwohl es nicht mal ein Jahr war, das Jahr der Eastside, und so vieles noch danach kam und schon passiert war, als wäre das die längste Zeit meiner Jugend gewesen, oder waren wir noch Kinder? Und wenn ich von diesem einen Jahr träume oder daran denke, dann weiß ich, wir waren die Größten damals."

    Der Traum zerplatzt wie eine Seifenblase. Konkurrierende Banden, die Polizei, Drogen – all das trägt dazu bei, dass die Fabrik bald wieder so still da liegt wie zuvor.

    Clemens Meyer erzählt von biografischen Umbrüchen in politischen Umbruchzeiten. Aus Kindern werden Halbstarke, die sich wehren – gegen die Eltern, die Schule, gegen eine Gesellschaft, die für sie keinen Platz vorgesehen hat. Meyer schreibt szenisch, mit spannenden, authentischen Dialogen; mutig wirft er den Leser hinein in diese kaputte, kleine Welt, von der Bildungsbürger sich am liebsten fern halten. Die Jugendlichen rebellieren ohne Chance auf eine bessere Zukunft. Aber so lange sie träumen, gibt es auch Hoffnung.