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Träume und Visionen auf der Leinwand

Als 1957 Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" die Kinosäle Schwedens erhellte, sahen die Zuschauer eine neue Art von Film. Er revolutionierte das Erzählkino in Europa und ließ seine Charaktere nicht begehren, sondern schickte sie auf die Suche nach etwas Seltenem und Kostbarem.

Von Nicole Maisch | 26.12.2007
    Wer vor einem halben Jahrhundert ins Kino ging, um den neuen Bergman-Film zu sehen, wird wohl recht erstaunt gewesen sein. Denn mit keinem Werk zuvor hatte sich der schwedische Regisseur so konsequent von der vorherrschenden, noch vom Neorealismus geprägten Erzählweise abgewandt. "Wilde Erdbeeren" eröffnete seinen Zuschauern eine damals völlig neue Kinowelt: Träume und Visionen hielten auf der Leinwand Einzug und revolutionierten das europäische Erzählkino. Ingmar Bergman:

    "Ich bringe die Gefühle, die Emotionen und nicht die Gedanken. Film ist für mich so emotionell, es ist nicht intellektuell."

    Mit "Wilde Erdbeeren" zielt der Regisseur gleich zu Beginn des Films auf ein ganz bestimmtes Gefühl, von dem er sicher weiß, dass all seine Zuschauer es kennen: die Angst vor dem Tod.

    Der 78-jährige Professor Isaak Borg träumt in der Nacht vor dem Erhalt der Ehrendoktorwürde von zeigerlosen Uhren und vernagelten Fenstern, von grellem Licht und harten Schatten. Die expressionistischen Schreckenswelten eines Nosferatu lassen grüßen und nichts Gutes ahnen: Ein Sarg fällt vom Wagen. Eine Hand ragt heraus, ergreift die des Professors. Der alte Mann beugt sich herab - und schaut in sein eigenes Antlitz. Die Hand, die ihn ins Totenreich hinüberziehen will, ist seine eigene.

    Nur dieser erste Traum ist deutlich als solcher zu erkennen. Auf der Fahrt nach Lund, wo Borg vor 50 Jahren promovierte, verschmelzen die äußeren Ereignisse und die Seelenbilder des Professors zu kaum voneinander zu unterscheidenden Strängen derselben Geschichte. Erzählt wird von der Menschwerdung eines Egozentrikers. Noch zu Beginn des Roadmovies versichert der Professor:

    "Auf dieses Miteinanderleben habe ich gern und freiwillig verzichtet."

    Auf der Fahrt aber, die er mit seiner Schwiegertochter Marianne angetreten hat, weisen ihm Erinnerungen und Visionen einen anderen Weg:

    "Es ist, als ob ich mir etwas sagen wollte, was ich nicht höre, wenn ich wach bin. - Und was ist das? - Dass ich ein Toter bin, obwohl ich lebe."

    Die Reise, mit ihren verschiedenen Stationen und Begegnungen, wird für Borg zur Suche. Einer Suche nach seinem Leben und nach dem, was ihm und anderen daran entgangen ist. Er muss erkennen, dass seine Art dem Leben fernzubleiben, von seinen Nächsten zu Recht als selbstgefällig, heuchlerisch und kalt empfunden wird. Aber, so fragt er:

    "Gibt es denn keine Gnade?"

    Doch, für den Professor schon. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Bergman-Figuren hat die Erkenntnis für ihn erlösenden Charakter. Borg gelingt der Schritt über den Abgrund, den er selbst geschaffen hat. Er kann auf Sohn und Schwiegertochter zugehen. Die Leichtigkeit von Bergmans Inszenierung hilft ihm dabei. Denn erst sie verleiht dieser Geschichte einer Läuterung die nötige Balance.
    Sich dem Schmerz und der Schönheit des Lebens zu stellen, das ist nicht nur in diesem Bergman-Film die Herausforderung. Der Regisseur selbst benutzte seine Kunst als Ventil:

    "Ich kann dann nicht da sitzen und alle diese Dinge in meinem Kopf haben und auf meinem Herz haben, dann muss ich es ausdrücken, sonst tut’s weh."

    Stets verarbeitete der Schwede persönliche Erfahrungen. Zu "Wilde Erdbeeren" notierte Bergman, Borg das sei er, er

    "im Alter von siebenunddreißig, abgeschnitten von menschlichen Beziehungen und menschliche Beziehungen abschneidend."
    Bergmans Gabe war es, sein eigenes Ringen in Bilder von universeller Gültigkeit zu übersetzen. Wie kein anderer Filmemacher prägte er das Selbstverständnis von Europas bürgerlicher Nachkriegsgeneration. Nur er öffnete in den 50er Jahren die Tür zu deren verdrängter Seelenwelt, erzählte von Schuld und Entwurzelung, von der Sehnsucht nach Liebe und Glück und von der Angst vor dem Tod.

    Bergman selbst hat das Leben schon früh als eine lange Reise in den Tod verstanden, spätestens mit "Wilde Erdbeeren" hat er sich auf den Weg gemacht. Alt ist er darüber geworden, sehr alt. Erst im Juli diesen Jahres ist er mit 89 Jahren verstorben. Aber schon 1976 resümierte der Regisseur:

    "Ich liebe dies grausame schöne Leben, wirklich ich finde das phantastisch. Ich finde, dass ich wirklich ein wunderbares Leben gehabt habe."