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Trainingslager für künstliche Sehnen

Medizin. – Als das so genannte Tissue Engineering, also das gezielte Züchten von Gewebetypen, vor etwa 15 Jahren begann, waren die Erwartungen hoch: Viele Forscher hofften, mit der Konstruktion von Gewebe außerhalb des Körpers vollständige Organe züchten zu können, um damit dem Mangel an Spenderorganen wie Nieren oder Leber zu begegnen. Die Hoffnung wich inzwischen der ernüchternden Erkenntnis, dass Organe zu komplexe Gebilde sind, um sie künstlich herzustellen, da sie aus vielen verschiedenen Gewebearten bestehen. Stattdessen konzentrieren sich die Mediziner auf das Tissue Engineering einzelner Gewebearten und machen große Fortschritte etwa bei der künstlichen Herstellung von Knorpel, Knochen und Sehnen. Den Stand der Wissenschaft auf diesem Sektor erörterten internationale Experten auf der Tagung der Europäischen Gesellschaft für Tissue Engineering, die am Samstag in Genua endete.

    Chirurgen plagt seit jeher ein chronischer Mangel an "Ersatzteilen" für viele Patienten. Während technische Entwicklungen ihr biologisches Pendant oft gerade ansatzweise nachahmen können, droht bei Transplantaten die Abstoßungsreaktion des Empfängerorganismus, der die Hilfe als fremd erkennt und bekämpft. Eine verheißungsvolle Lösung wäre da doch die Neuschaffung ganzer Organe aus wenigen Zellen des Betroffenen selbst, hofften die Begründer des so genannten Tissue Engineering vor rund 15 Jahren. Zwar erfüllte sich der Traum vom gezüchteten Ersatzherzen bislang nicht, doch auf anderen Gebieten konnten dennoch bedeutende Erfolge erzielt werden, so das Fazit des 2. Jahrestreffens der Europäischen Gesellschaft für Tissue Engineering, das am vergangenen Samstag in Genua zu Ende ging. Dazu gehören beispielsweise nachgezüchtete Sehnen und Bänder, berichtet Albert Banes von der Universität von Carolina: "Besonders bei Verletzungen der äußeren Kreuzbänder und -sehnen am Knöchel oder Knie helfen Eigentransplantate aus anderen Sehnen kaum weiter. Viel besser wäre da ein Konstrukt, das knöcherne Enden trägt und einen sehr kräftigen, elastischen Mittelteil besitzt. Hier kann das Tissue Engineering helfen."

    Ganz so einfach ist die Sache indes nicht, denn zunächst müssen entsprechende Ausgangszellen eines Gewebes am betroffenen Patienten gewonnen werden, um Abstoßungen zu vermeiden. Gewebe müssen dann aber im Bedarfsfall eigens langwierig produziert werden, eine Vorratshaltung ist nicht möglich. Und auch dieser Vorgang ist einfacher gesagt als getan, denn die Zellen müssen auf eine genaue Passform getrimmt werden. Dazu dient eine Art Weg weisendes Gerüst, um das sich die Ersatzzellen ranken: "Wir streuen menschlichen Ausgangszellen der Patienten in ein Gel aus der ursprünglichen, langen Fadenform von Kollagen-Bindegewebe. Dort reifen die Zellen heran und beginnen, ihre eigene Matrix-Umhüllung zu bilden", so Banes. Auf diese Weise konnte der US-Wissenschaftler bereits künstliche Sehnen von bis zu 3,5 Zentimeter Länge wachsen lassen, doch auch größere Längen seien problemlos herzustellen. Grundvoraussetzung sei allerdings ein angenehmes Ambiente für den Zellnachwuchs, denn die empfindlichen Zellen gedeihen nur unter optimaler Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen.

    Zwar bilden die Zellen unter solcher Anleitung tatsächlich eine künstliche Sehne, doch ist sie keineswegs so belastbar wie die von Geburt an geforderten Originale. Daher schicken die Gewebeingenieure das junge Bio-Tau quasi erst einmal ins Trainingslager: "Wenn Sie eine Faust machen, können Sie die angespannten Sehnen unter der Haut sehen. Wir haben nun ein System entwickelt, mit dem wir eine solche mechanische Belastung auf ein künstliches System ausüben und die Zellen wie Athleten trainieren können. Dabei wärmen sich die Zellen auf, ''laufen'' eine Runde und legen dann eine Verschnaufpause ein." Dazu wird die junge Sehne an einer Membran befestigt und ein Vakuum erzeugt. So entsteht wie im Körper ein Zug auf der Sehne, dem sich die Struktur anpasst und so lernt zu widerstehen. Ist die Ersatzsehne schließlich austrainiert und kräftig genug, kann sie in den Patienten transplantiert werden. Zwar haben die Forscher bisher noch keinen menschlichen Patienten mit einer künstlichen Sehne behandelt, doch erste Tierversuche an Hühnern seien bereits vielversprechend verlaufen.

    [Quelle: Verena von Keitz]