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Tramp im Hungerdelirium

Heute vor 80 Jahren hatte Charlie Chaplins Film "Goldrausch" in New York Premiere. Wie der kleine Tramp mit höchstem Genuss seinen Schuh verspeist, gehört wohl zu den berühmtesten Filmmomenten aller Zeiten. Bei der Berliner Premiere allerdings kam eine andere Szene noch besser an: der Brötchentanz. Das Publikum war vor Begeisterung nicht mehr zu bremsen. Was den geistesgegenwärtigen Geschäftsführer des Kinos dazu brachte, in den Vorführraum zu eilen. Dort ließ er die Projektion unterbrechen und die Filmrolle zurückspulen. Das Orchester fand seinen Einsatz und die Szene wurde noch einmal gezeigt!

Von Nicole Maisch | 16.08.2005
    "Goldrausch" könnte man eigentlich jenen Fossilen der Stummfilmära zuordnen, die rau und fremd wirken, wann immer sie in den bunten Welten der Fernsehsender auftauchen. Aber Charlie Chaplins Klassiker gleicht eher einem alten Freund, den man inmitten dieser Bilderfluten längst nicht mehr vermutet hätte. Und doch, manches Mal taucht er auf, der alte Film, und bringt sein Publikum zum Leuchten.

    Eine stereoskopische Fotographie aus der Zeit des großen Goldrauschs lieferte dem Filmemacher Chaplin die Idee. Abgebildet war eine endlose Schlange von Goldgräbern, die sich mühevoll einen tief verschneiten Pass hinauf windet. Die Eröffnungsszene, mit 600 Komparsen 1924 in der Gebirgsregion der Sierra Nevada gedreht, hatte der Regisseur dieser Fotographie exakt nachempfunden. Der Film aber, den Chaplin fast 20 Jahre nach der Uraufführung mit einem von ihm selbst aufgesprochenen Off-Text versah, erzählt die Geschichte eines einzelnen unerschrockenen Goldgräbers.

    "Far into the icy north, deep into the silent nowhere came an undaunted lone prospector."

    Bevor der 'little fellow', wie Chaplin den Tramp, den er selbst verkörperte, stets nannte, Gold und auch die Liebe findet, muss er einige Abenteuer bestehen. Für die ließ sich der Filmemacher von der so genannten Donner-Tragödie inspirieren: 1846 wurde ein Siedlertrupp von tödlichen Schneemassen eingeschlossen, nur einige Wenige überlebten, die sich vom Fleisch der zuerst Verstorbenen ernährten. Aus den tragischen Geschehnissen formte Chaplin den komödiantischen Gegenentwurf.

    "What's the matter with you, said the little fellow. Come, my pretty bird, said Big Jim, don't be childish."

    Big Jim hält den Tramp im Hungerdelirium für ein überlebensgroßes Huhn und will ihn schlachten. Für die drei, vier Sekunden dauernde Verwandlung machte Chaplin, bei gleich bleibendem Bildausschnitt, exakt dieselben Bewegungen einmal als Tramp und, nachdem die Kamera zurückgespult worden war, ein zweites Mal im Huhnkostüm. Die perfekt gelungene Überblendung entstand damals noch in der Kamera! Aber die Technik allein hätte den Zauber nicht vollbracht. Erst Chaplins geniale Fähigkeit, in den unterschiedlichsten Dingen Verwandtes zu entdecken und pantomimisch darzustellen, verlieh dem Huhn Charakter.

    "What's the matter, said the little fellow. I thought you were a chicken."

    Die flatternden Arme und den Watschelgang des Tramps nahm Chaplin als 'hühnerhaft' wahr und nutzte sie für die Verwandlung. Auf ähnliche Art und Weise entlockte er einer Schuhsohle das saftigste Filet und zwei Brötchen mit Gabelstielen die anmutigsten Ballerinenbeine.

    Virtuos entwickelt Chaplin in diesen Szenen das Komische aus dem Geist der Tragödie: Lachen, um nicht verrückt zu werden, nicht aus Einsamkeit und nicht aus Hunger. Auf dem Weg vom lustvoll sadistischen Taugenichts zum philosophisch abgeklärten Einzelgänger brachte Chaplin im "Goldrausch" seinen Tramp ans Ziel.

    Hinter dem mit tänzerischer Leichtigkeit hervorgerufenen Lachen steht harte Arbeit. Charlie Chaplin:

    "Nothing comes easy. Many a time I've been lost. But I would go away and work on something and sweat it out. That's why they took so long."

    Die Dreharbeiten zu "Goldrausch" dauerten 15 Monate, doch wirklich gefilmt wurde höchstens in einem Drittel der Zeit. Wie üblich entstanden die Szenen ohne Drehbuch, allein durch Improvisation am Set. Kam es zu keinem befriedigenden Ergebnis, machte das Team eine Zwangspause und Chaplin zog sich zurück, um allein eine Lösung zu erarbeiten - für jede Figur. Hauptdarstellerin Georgia Hale erinnert sich, wie er seinen Schauspielerkollegen die verschiedenen Rollen detailliert vorspielte und so das Beste aus ihnen herausholte:

    "He acted the scene out for you. And instilled it into you, so that you just had to give a terrific performance."

    Nach einer Vorpremiere in Los Angeles trat "Goldrausch" am 16. August 1925 mit einer Mitternachtsaufführung in New York seinen weltweiten Siegeszug an.