Archiv


Transatlantik-Linien, eingestellt

Da die Zeit vollkommen unanschaulich ist, macht sich der Mensch gern einen räumlichen Begriff davon. So wird die Zeit im wesentlichen als Bewegung erfahren, als Bewegung entlang einer Strecke. Man spricht vom Gang der Geschichte und glaubt vielleicht sogar an den Fortschritt, der ein besonders zielbewusstes Vom-Fleck-Kommen ist. Vermutlich liegt in diesem Sachverhalt die unvergleichliche Faszination begründet, die von jeder Art Transport ausgeht. Auto, Eisenbahn und Flugzeug sind daher nicht nur als technische Errungenschaften zu betrachten, sie sind auch Werkzeuge der Weltaneignung und Symbole unserer Zeitvorstellung.

Ein Beitrag von Burkhard Müller-Ullrich |
    Insofern gilt es die Nachricht vom bevorstehenden Ende des "Concorde"-Verkehrs auch auf ihre philosophisch-metaphysische Bedeutung hin zu untersuchen. Wenn die letzten diensttuenden Exemplare des Überschallflugzeugs Ende Oktober vom Himmel über dem Atlantik verschwinden, dann drückt sich darin eine ganze Reihe von Paradigmenwechseln aus, unter denen die scheinbare Wiederentdeckung der Langsamkeit am unwichtigsten und irreführendsten ist.

    Viel größere Aufmerksamkeit verdient die Route selbst. Von allen Verkehrsverbindungen auf unserem Globus sind nämlich diejenigen zwischen den europäischen und nordamerikanischen Machtzentren in unserer Epoche die weitaus wesentlichsten. Tatsächlich könnte man die Weltgeschichte auch in geopolitischen Verbindungslinien zur Darstellung bringen: so hat jedes Zeitalter die Konstellation der Länder und der Kontinente auf eine je eigene Weise geprägt und verändert. Heute aber gilt: Paris – New York und London – New York sind immer noch die Achsen, auf denen sich das Schicksal der ganzen Erde dreht. Doch wir erleben gerade jetzt mit unleugbarer Deutlichkeit, dass dieses zivilisatorische Paradigma an Geltungskraft verliert. Die abendländische Concordia, die sich in dieser Schnellverbindung zwischen Alter Welt und Neuer Welt ausdrückt, ist wie noch selten in Gefahr.

    Das Ende des "Concorde"-Verkehrs zeigt aber auch einen Epochenbruch auf einem völlig anderen Gebiet an. Unter dem Horizont globalisierter Billigfliegerei hat es die Lust auf puren Luxus auf Dienst- und Geschäftsreisen schwer. Seitdem die Herrschaft in den Unternehmen den Controllern zugefallen ist, sind Reisespesen selbst für die Angehörigen der Upper Class ein heikles Thema. Nach diesem ökonomischen Paradigmenwechsel lässt sich das Ende der "Concorde" aus einer simplen Gegenüberstellung ablesen: die Kosten für den Überschallflug im Verhältnis zum preiswertesten Ticket betrugen zum Schluss dreißig zu eins bei einem Zeitgewinn von drei zu eins.

    Der Zeitgewinn fiele übrigens noch bescheidener aus, wenn sich nicht die Flugdauer auf den meisten Strecken während der letzten zwanzig, dreißig Jahre ständig und weitgehend unbemerkt erhöht hätte. Dieses Phänomen gehört zu den schönsten Paradoxien des modernen Reisens: obwohl die Maschinen immer schneller und die Triebwerke immer kräftiger werden, dauert die Atlantiküberquerung seit den Zeiten der Boeing 727 ausweislich der Flugpläne immer länger. Denn einerseits wird heutzutage aus Gründen der Spritersparnis wahrhaftig langsamer geflogen, und andererseits machen die verstopften Luftkorridore immer mehr Warteschleifen notwendig, welche die Fluggesellschaften bereits als Zeitpuffer in die Flugpläne einrechnen, damit sie am Ende noch mit Pünktlichkeit prahlen können.

    Nur die Concorde als hochpolitische Ausnahmeerscheinung hat diesen Trend zur sozusagen schleichenden Verlangsamung durchkreuzt. Doch ein besonders ironischer Weltgeist sorgt dafür, dass mit ihrer Abschaffung in diesem Sommer auch eine andere Legende des transatlantischen Verkehrs außer Dienst gestellt wird: die "Queen Elizabeth II", das letzte große Linienschiff zwischen Europa und den USA. Das schnellste und das langsamste Verkehrsmittel kommen gleichzeitig an – und zwar am Ende ihrer eigenen Geschichte.

    Link: mehr ...

    1050.html