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Trauma von der Seele geschrieben

"Die Zugereisten" gehört unbestritten zur großen europäischen Literatur. Der überaus beklemmende 350 Seiten starke Roman kommt fast wie eine Reportage daher: Er schildert messerscharf und unverblümt autobiografische Erinnerungen eines Jugendlichen an den Krieg in Lubjana der 1940er Jahre. Sie sind geprägt von Not, Hunger, Fremdheit und Einsamkeit.

Von Jörg Plath | 21.11.2005
    Anderthalb Jahre nach dem ersten Band der "Zugereisten" kommt der zweite in die Buchhandlungen, und es ist von der ersten Zeile an so, als wäre keine Zeit verstrichen, als hätte Lojze Kovacic nur den Atem angehalten, als hätten wir lediglich einen Moment der Besinnung und der Bestürzung sein Buch sinken lassen - dieses Sturzbachbuch der Erinnerung an einen Jungen, der er gewesen war im Krieg in Lubljana, inmitten von Not, Hunger, Fremdheit, Einsamkeit:

    "Im Hof des Kasinos kochten die italienischen Soldaten auf ihren Begleitfahrzeugen Spaghetti und Minestra. Sie verteilten sie auch an Kinder. Karel, Ivan, Andrej und ich liefen mit unseren Töpfen hin. Wir warteten im Durchgang neben dem Rio, bis sich die Soldaten im Hof satt gegessen hatten. Dann rief uns der Koch zum Kessel auf dem hohen Wagen. Die Schöpfkellen waren ganze Helme groß. So viel Spaghetti mit Tomaten und Reis, voller Fleisch, hatte es noch nie in unserem Fünflitertopf gegeben. Jetzt hatten wir neben dem Frühstück, bei dem wir weißen Zwieback aus unseren Kisten in den Kaffee brockten, noch ein kräftiges und wirklich reichhaltiges Mittagessen auf dem Tisch. Dann erging eine Verlautbarung des neunten Armeekorps der "Provincia Lubiana", dass die Bevölkerung innerhalb einer bestimmten Frist alle Waffen, Kleider und Lebensmittelkonserven, die sie aus den Kasernen der ehemaligen jugoslawischen Armee entwendet hatte, zurückgeben müsse. Vati und ich versteckten die Kisten, so gut es ging, unter Fetzen und alten Kleidern. Nein, auf diesen herrlichen Zwieback würden wir um keinen Preis verzichten, auch unter Androhung der Todesstrafe nicht."

    Die fünf Zugereisten stammen aus der Schweiz. Weil die Mutter Deutsche und der Vater Slowene sind, werden sie 1938 ausgewiesen. Eben noch wohlhabende Kürschner mit einem eigenen Ladengeschäft, besteigen sie als verarmte Flüchtlinge in Basel einen Zug nach Lubljana. Für den zehnjährigen Sohn und Erzähler ist die "Ausschaffung" nach Jugoslawien ein einziges Abenteuer. Er erträumt sich ein Zigeuner-, Indianer- und Märchenland zugleich. Stattdessen verliert er alles: die Heimat, die Sprache, die Träume. Bald schon bleibt ihm wenig mehr als ein Paar schreckhaft geweiteter Augen. Vor ihnen breitet der Slowene Lojze Kovacic ein Panorama des Schreckens aus. Der erste Band präsentiert es in ländlich-archaischen Bildern: ein liebeskranker Jüngling ejakuliert in einen Maulwurfshügel, ein Spatz mit ausgestochenen Augen wird in das Zimmer geworfen, in dem sich die Auswandererfamilie in Todesangst zusammendrängt und vor dem sich die Dorfbevölkerung zusammenrottet. Im zweiten Band rückt das Lubljana der Jahre 1941 bis 1945 in den Mittelpunkt. Sie bleibt zwar vom Luftkrieg verschont, aber Besatzung, Angst, Partisanenattentate und Versorgungsnot paralysieren das Leben. Nur die Sehnsucht nach Liebe ruht nicht: Die italienischen Operettensoldaten poussieren in den Straßen, und auch der dreizehnjährige Erzähler läuft Mädchen hinterher. Doch das neue, so wunderbare Begehren wird von Verachtung begleitet - und "das ist das Schlimmste".

    "Sie lag halb sitzend auf dem zerwühlten Sofa, in einem blauen Morgenmantel, etwas breitbeinig, der Morgenmantel hatte sich leicht an den Hüften geöffnet. Man konnte die blonden Beine in den Strümpfen hinaufsehen bis zum Schatten in der Mitte oben, wo ihre klumpige weiße Hand ruhte. Ich sah ihr rotes Gesicht, die zerzausten Haare, die beiden auseinanderstehenden Zähne, die Brille, die auf ihre Nasenspitze gerutscht war. Ich verbeugte mich. "Hier sind die Hefte!" "Leg sie dorthin!" sagte sie mit so einer weichen, sanften Stimme, die ich bei ihr nicht gewohnt war. Sie zeigte auf ein braunes Regal mit Noten. Ich legte sie dort ab. Und es überkam mich, dass ich mich am liebsten auf sie geworfen und all ihre Wölbungen geknetet hätte, die den Morgenmantel aufblähten wie zerkochte Makkaroni. Auf die Tyrševa trat ich etwas benommen hinaus."

    Wie ein Monolith kommt der überaus beklemmende Roman daher, seine 350 Seiten gegliedert nur durch wenige Leerzeilen und drei Punkte dort, wo selbst dieser Erzähler einmal Luft holen muss. Im Königreich Jugoslawien ist der Junge als vermeintlicher Deutscher ebenso ein Fremder wie im besetzten Slowenien, wo Titos Partisanen zunehmend erstarken, oder später in der Republik Jugoslawien. Doch der Außenstehende, misstrauisch Beäugte sucht in einer Mischung aus Neugier und Angst die Nähe, denn "nur in der Genauigkeit ist wahre Schönheit". So schildert er eindringlich die Arbeit der "Umsiedlungssonderkommission", die die angetretenen Slowenen nach stundenlangen Untersuchungen als Reichs- oder Volksdeutsche klassifiziert - für die Mutter sind die demütigenden Prozeduren ein Grund, nicht ins Reich zu ziehen. Er wendet den Blick auch nicht ab, als der tuberkulöse Vater stirbt. Ein plastisches Bild folgt auf die nächste. Allem widerfährt Gerechtigkeit: Kinderspielen, Flüchtlingstrecks, Bettelgängen, Gelegenheitsarbeiten, exhumierten und öffentlich präsentierten ausgestellten Opfern der Partisanen:

    ""Opfer der kommunistischen Verbrecher" stand auf einem Pappschild, und ein Wachmann stand mit einer Chirurgenmaske vor Mund und Nase daneben. Es waren Menschen aus Unterkrain, schlecht angezogen. Einige noch in Gummistiefeln, die nicht so schnell zerfielen wie ihre Beine. Die meisten nur in Schuhfetzen, einige hatten eine durchschnittene Kehle, manche noch immer rote Gesichter, als wären sie vollkommen gesund. Andere waren zur Seite gedreht, gegen das Brett, als hätten sie ein gebrochenes Genick, die Hände mit verrostetem Stacheldraht gefesselt. Die Mädchen und Buben trugen irgendwelche Schlafanzüge, ähnlich Ministrantenchorhemden. Sie sahen gerade nach oben, zur Statue auf der Spitze der Pestsäule vor der Kirche. Einige waren bis zum Hals bereits Sand und Erde, andere hatten angenagte Gesichter, so dass sie aussahen wie durchlöcherte Spinnweben. Die Partisanen mussten sich wirklich beeilt haben, während das Dorf schlief. Ich hatte keine Angst, ich empfand keinen Ekel. Ich wusste nur, dass ich einer von ihnen hätte sein können."

    Lojze Kovacic, der im letzten Jahr gestorben ist, hat sich in "Die Zugereisten", das er auch eine "Chronik" nannte, traumatische Erfahrungen vom Leib geschrieben. Wie sein Erzähler wurde er 1928 geboren und 1938 mit den Eltern aus der Schweiz ausgewiesen. 1944 starb der Vater, und 1945, davon erzählt der dritte und letzte Band der "Zugereisten", wurden Mutter, Schwester und Cousin erneut ausgewiesen, nun von der Republik Jugoslawien nach Österreich. Kovacic hatte man die Wahl gelassen. Er blieb, verlor aber 1947 wegen miserabler Schulleistungen und fragwürdigen Verhaltens die staatliche Unterstützung. Am Ende des vorliegenden zweiten Bands der "Zugereisten", in den letzten Monaten der deutschen Besatzung, beginnt der Sechzehnjährige zu schreiben und zu veröffentlichen. Zehn Romane und fünf Kurzgeschichten verfasste er in den folgenden Jahren, vornehmlich autobiographisch und in einer seltsamen Mischung aus direkten Wahrnehmungen und Empfindungen bei gleichzeitiger Distanz zur Außenwelt, die auch dieses Erinnerungswerk prägt.

    Die dreiteilige Chronik "Die Zugereisten", Anfang der Achtziger Jahre in Slowenien veröffentlicht, gehört zu jener großen europäischen Literatur, die nach und nach aus dem Schatten der Blockkonfrontation auftaucht. Sein heranwachsender Erzähler fügt die Bruchstücke einer zerfallenden, alptraumartigen Welt zusammen, um sich selbst nicht verloren zu gehen. Die Kinderträume vom Paradies sind zerstoben. Illusionen hat er keine mehr, nur einen Wunsch. Dieser stellt seiner Zeit ein denkbar schlechtes Zeugnis aus, bezeugt jedoch, dass der Erzähler erstaunlicherweise vom Hass verschont geblieben ist:

    "Von den Menschen sollte man nur ihre Freundlichkeit und Diskretion kennen. So wie am Anfang. Weiter stochern darf man nicht, denn dann tun sich nur Abgründe auf."

    Lojze Kovacic: "Die Zugereisten"
    Drava Verlag