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Traumatisiert und gebrochen: Die dänischen "Experiment"-Kinder

Die dänische Öffentlichkeit ist schockiert über ein Kapitel der Kolonialzeit, das die Beteiligten gezeichnet hat und teils noch heute traumatisiert. Im Mittelpunkt: 22 grönländische Kinder und ein paternalistisches Dänemark, das es mit einem "Experiment" gut meinte.

Von Marc-Christoph Wagner | 14.08.2009
    Die Erschütterung – selbst über Tausende Kilometer und durch das Telefon hindurch ist sie deutlich zu spüren.

    O-Ton Helene Thiesen

    Mai 1951. Helene Thiesen ist sechs Jahre alt. In Nuuk, der Hauptstadt Grönlands, wartet ein Schiff auf sie, das sie nach Dänemark bringen soll. Doch das werden Helene und die anderen 21 Kinder an Bord erst später erfahren. Das Schiff legt ab. Helenes Mutter am Kai wird immer kleiner. Die Sechsjährige fragt sich, wieso lässt sie mich gehen:

    O-Ton Helene Thiesen

    Grönland ist zu Beginn der 1950er-Jahre eine zu Dänemark gehörende Kolonie, doch die Zustände hier sind gänzlich anders, als man es von daheim gewohnt ist. Die Bevölkerung ist arm, die Wohnverhältnisse teilweise unzumutbar, ein Schulsystem Fehlanzeige, Tuberkulose macht sich breit. Doch damit soll nun Schluss sein. Der dänische Staat beschließt, nicht allein seine Kolonie zu modernisieren. Sondern gleich auch den Kern einer neuen Elite anzulegen– dänischsprachig und erzogen nach westlichen Werten: 22 Kinder, aus ihren Familien herausgerissen, sind deshalb – im Mai 1951 – auf dem Weg nach Dänemark.

    O-Ton Christine Heinesen

    Es ist ein Experiment. "Das Experiment", wie es selbst in den Unterlagen der dänischen Behörden heißt. Auch Christine Heinesen befindet sich an Bord des Schiffes. Ab sofort dürfen die Kinder kein grönländisch mehr sprechen. Gegessen wird mit Messer und Gabel, jeder Bissen muss 32 Mal gekaut werden, am Ende jeder Mahlzeit werden die Hände gefaltet und Dankeslieder im Chor gesungen. Binnen kurzer Zeit haben die grönländischen Kinder ihre eigene Sprache verlernt.

    O-Ton Christine Heinesen

    Anderthalb Jahre später – im Oktober 1952 – kehren 16 der 22 Kinder nach Grönland zurück. Jedoch nicht zu ihren Familien, mit denen sie sich nicht einmal mehr unterhalten können. Sondern in ein Kinderheim des Roten Kreuzes nach Nuuk, wo ihre Erziehung zur künftigen Landeselite vollendet werden soll. Die restlichen sechs werden in Dänemark zur Adoption frei gegeben, zum Teil ohne das Wissen der Eltern, zum Teil sogar gegen deren erklärten Willen. Helene Thiesen ist unter den Kindern, die nach Nuuk zurückkehren. Einmal pro Woche – stets sonntags – darf ihre Mutter sie besuchen:

    "Wir haben uns schweigend angeschaut. Ich wagte nicht zu fragen, warum ich nicht mit ihr nach Hause kommen durfte. Ich dachte, würde ich fragen, dann sei ich unartig und sie brächten mich wieder in ein anderes Land."

    12 der 22 Kinder von damals sind heute bereits tot – gestorben selten älter als 50 Jahre. Die meisten von ihnen haben weder den Anschluss an ihre Familien noch an die grönländische Gesellschaft je gefunden. "Das Experiment" Dänemarks in Grönland misslang. Aus der vermeintlichen Elite wurden wurzellose Menschen mit gebrochenen Biografien.

    "Ich weiß nicht, welche Konsequenzen man aus dieser Sache ziehen soll. Wir sind derzeit dabei, das Verhältnis zwischen Grönländern und Dänen auf eine neue Stufe zu stellen. Dazu gehört aber auch, dass wir in unserer Vergangenheit aufräumen, wir uns unserer Verantwortung stellen müssen, damit es so etwas wie Versöhnung geben kann. Das ist eine gemeinsame Aufgabe. Nur so können wir Ereignisse wie diese würdig abschließen."

    So Kuupik Kleist, grönländischer Regierungschef, der selbst einen Teil seiner Jugend in einem Kinderheim verbracht hat. Und während die heutige dänische Regierung noch zu den Ereignissen der Vergangenheit schweigt, fordern die oppositionellen Sozialdemokraten eine Untersuchungskommission, die die Einzelheiten zutage fördern soll. Die sozialpolitische Sprecherin, Mette Frederiksen:

    "Das ist ein schwarzes Kapitel unserer Geschichte. Nicht nur die beteiligten Grönländer, auch wir Dänen müssen wissen, was passiert ist, damit wir uns dem stellen können."