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Traumavererbung
Rattenmütter übertragen Angst auf Nachwuchs

Psychiater und Psychotherapeuten beobachten seit Jahrzehnten Fälle, in denen spezifische Trauma- und Angstreaktionen an den Nachwuchs weiter vererbt wurden - obwohl das ausschlaggebende Erlebnis vor der Schwangerschaft passierte. In Michigan haben Forscher in einem Rattenexperiment eine Erklärung dafür gefunden.

Von Martin Preiner | 29.07.2014
    Eine Ratte mit ihrem Nachwuchs im Nest.
    Wenn die Mutter die Quelle der Angst ist, dann kann ihr Nachwuchs auch in den ersten beiden Lebenswochen Angst erlernen. (picture-alliance/ dpa - UPPA NHPA/Photoshot)
    "Ich heiße Jacek Debieck und bin Psychiater. Meine Patienten sind zum Großteil Kinder, aber ich kümmere mich auch um Erwachsene, maßgeblich schwangere Frauen. Mein Fokus liegt dabei auf Angst- und posttraumatischen Belastungsstörungen. Zudem bin ich Neurowissenschaftler und beschäftige mich im Labor mit emotionalem Lernen und Gedächtnis."
    Was Jacek Debiec von der University of Michigan bei seinen Patienten beobachtet, versucht er, im Labor zu erklären. Am meisten beschäftigen ihn dabei Kinder, die nicht nur eine generelle Ängstlichkeit, sondern exakt die gleichen Traumata wie ihre Eltern aufweisen. Und das, obwohl diese lange vor ihrer Geburt stattgefunden haben.
    Zum Beispiel ein Mädchen, das mit starker Angst auf raschelnde Bäumen reagierte - also einem eigentlich neutralen Reiz von außen. Es stellte sich heraus, dass ihre Mutter in ihrer Jugend im Park angegriffen worden war, Jahre bevor sie schwanger wurde. Bisher war unklar, auf welche Weise diese Übertragung stattfindet. Genetisch, epigenetisch oder sozial. Auf der Suche nach einer Antwort hat Jacek Debiec ein Experiment bei Ratten entworfen.
    "Wir haben gesehen, dass wenn wir die Rattenmutter mit leichten Elektroschocks dazu konditionieren, vor einem neutralen Geruch wie Pfefferminze Angst zu bekommen - lange bevor sie trächtig ist - dann bekommt ihr Nachwuchs auch Angst vor diesem Geruch. Unsere Hypothese war, dass das dadurch passiert, dass die Mutter vor den Kindern auf diesen Geruch ängstlich reagiert und die Kinder dadurch auch Angst bekommen."
    Diese Hypothese sollte sich bewahrheiten. Debiec konfrontierte die konditionierte Mutter vor ihrem Nachwuchs mit dem Pfefferminzgeruch. Die Mutter bekam Angst. Später wurde der Pfefferminzgeruch den von der Mutter isolierten Jungtieren angeboten - sie erstarrten oder versuchten die Duftwolke zu vermeiden. Typische Angstreaktionen. Und zwar nachhaltig, die kleinen Ratten waren nach nur einem Mal furchtkonditioniert.
    Kinder lernen von der ängstlichen Mutter
    Normalerweise, so dachte man bis zu Jaceks Studie, können Ratten in ihren ersten zwei Lebenswochen keine Furcht lernen. Doch wenn die Mutter die Quelle der Angst ist, bedarf es nur einer einzigen durch Pfefferminzgeruch hervorgerufenen Angstattacke der Mutter, damit ihr Nachwuchs dauerhaft traumatisiert ist. Weiterführende Versuche zeigten, dass der Geruch der ängstlichen Mutter ausreicht, um diese Reaktion zu triggern. Dabei ist es egal, ob die Ratten mit ihrer Mutter verwandt sind - auch eine traumatisierte Ziehmutter konnte mit ihrem Angstgeruch ein Trauma weitergeben.
    Debiec konnte zudem nachweisen, dass der Stresshormonlevel im Moment, in dem das Pfefferminz-Trauma in den Jungtiergehirnen abgespeichert wird, stark ansteigt. Die Studie aus Michigan überzeugt auch Psychiaterin Ulrike Schmidt vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München.
    "Also, was ich persönlich besonders spannend finde, weil ich auch selbst an Stresshormonen forsche, dass wenn bei den Jungtieren der Stresshormonanstieg blockiert wird durch ein Molekül, dass dann diese Furchtkonditionierung verschwindet. Das Allerinteressanteste wäre gewesen, ob sich das auf die Enkelgeneration überträgt. Ob also die Enkel dann auch noch Furcht vor diesem Pfefferminzgeruch haben. Das wäre sehr spannend."
    "Das ist tatsächlich eine der Richtungen, in die wir gehen wollen. Also zu sehen, ob man diese Angst noch eine Generation weitervererben kann. Zudem wollen wir herausfinden, ob man diesen Vererbungseffekt auch zum Vorteil des Nachwuchses nutzen kann. Kann eine ruhige, unängstliche Mutter also auch eine Traumatisierung bei den Kindern wieder lösen? Oder in anderen Worten: Wenn man das Trauma der Mutter behandelt, hätte das auch einen positiven Effekt auf das Trauma der Jungtiere?"
    Jacek Debiec hofft, seine Erkenntnisse bei Ratten in Zukunft auch auf seine Patienten übertragen zu können. Er ist überzeugt, dass sich zeigen wird: Wenn man den Müttern oder Eltern früh genug bei ihren psychischen Problemen hilft, hilft man auch den Kindern nachhaltig.