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Traumspiel in kaltem Licht

Leidenschaft und Verzweiflung schimmern nur bisweilen durch das in starrer Kälte inszenierte Geschehen: Claude Régy, Altmeister der französischen Regiekunst, bringt Arne Lygres Drama "Mann ohne Aussichten" auf die Bühne des Théatre de l'Odéon in Paris.

Von Ute Nyssen | 05.10.2007
    Zu Beginn des Abends blickt der Zuschauer nach einem langen Moment totaler Dunkelheit auf eine weite leere Bühne. Zwei Figuren an der Rampe in fahlem Licht muten zunächst wie Schattenrisse an.

    Claude Régy, der als französische Erstaufführung soeben Homme Sans But, das neueste Stück des jungen norwegischen Autors Arne Lygre präsentierte, benutzt bei seinen Inszenierungen die Bühnenbeleuchtung so souverän wie der Maler seinen Pinsel. Als Farbe setzte er bei Arne Lygre noch dazu eine monotone Musik ein, die das Drama auf der Bühne gliederte und ebenso wie die zögerliche, gedehnte Sprechweise aller Personen einen betont schleppenden Verlauf von Zeit suggerierte. Abrupt unterbrachen diesen gleichmäßigen Rhythmus nur wenige Ausbrüche von Hass und heftiger körperlicher Gewaltanwendung.

    Régy hat eine besondere Affinität zu dramatischen Werken, deren Worte, wie hier bei Lygre, Leidenschaften und Verzweiflungen nur als Spitze von Eisbergen aufscheinen lassen. Mit sehr angespannten Bewegungen der Schauspieler evozierte Régy hinter den Worten eine Welt voller Abgründe. In einigen Augenblicken ließ er die innere Wut der Figuren gar in bewegungslose Starre übergehen, nur die verkrampften Hände vermochten noch zu reden. Diese Körpersprache einer vibrierenden Verhaltenheit, die eine gewissermaßen "nordische" Stimmung erzeugt, charakterisierte schon Régys Inszenierungen des Dramatikers Jon Fosse, wie Ibsen ein Landsmann und theatralischer Ahnherr von Arne Lygre.

    In Lygres Stück trägt ausschließlich Peter, der "Mann ohne Aussichten", einen Namen, alle anderen Figuren in seinem Lebensschauspiel, ob sein Assistent oder die Familienmitglieder, agieren nur als namenlose funktionale Rädchen. Es waren Peter und sein Bruder, die wir zu Beginn als dunkle Silhouetten sahen, Peter hingerissen von der Weite des Meeres und eines unbesiedelten Fjords. Zunächst fast unbemerkt, wie alle weiteren Figuren des Stücks, tauchte dann in überraschender Leibhaftigkeit ein Mann auf, dem ein Teil des Fjords von alters her gehörte.

    Peter verschafft sich mit Gewalt und viel Geld dessen Land für die Gründung einer Stadt, seiner Stadt. Der Mann wird sein Assistent und der Zuschauer weiß nach dieser Episode, was für einen Menschen er mit Peter vor sich hat, ohne dass es weiterer psychologischer Deutungen des Autors bedarf. Zehn Jahre rollen nun ab, in Rückblenden und im Zeitraffer. Der Tod rückt näher. Aus dem Bühnenhimmel senkt sich langsam eine riesige Wand herab, verengt Peters weiten Horizont zu einem kleinen Raum, ein helles, klares Licht wirkt wie eine Verdichtung der Atmosphäre: Peter stirbt. Als einziges "Requisit" des Abends wird sein Totenbett hereingeschoben.

    Aber so schnell wie seine Leiche weggebracht wird, so plötzlich quillt aus den Hinterbliebenen wie aus aufgeschlitzten Puppen ihr Wille zum Eigenleben. Ihnen räumt der Autor für einen realen Zeitraum von einigen Tagen, in denen sie sich vor unseren Augen ausleben dürfen, die Hälfte der Bühnenzeit ein. Das Stück dauert nach dem Tod des Helden noch einmal so lang wie dessen zehnjähriges Bühnenleben.

    Lygre registriert kalt, wie sich die bislang unterdrückte Gier nach Besitz, Macht und Sex enthemmt Luft schafft. Und immer wieder baut er Fallen ein für das Verständnis des Zuschauers, wenn zum Beispiel neu auftauchende Figuren die Rolle von solchen übernehmen, die verschwinden, eine Schwester scheint die Figur einer Tochter zu ersetzen und der Bruder den Bruder. Die im idealen Sinne werktreue Inszenierung von Claude Régy tauchte das raffiniert komponierte Stück in das zunehmend unwirklichere Licht eines Traumspiels ohne festen Boden.