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Traurig und tief

Themen wie Krankheit und Sterben, Einsamkeit oder Trauer müssen aus Jugendbüchern nicht ausgeklammert bleiben. Wie wagemutig Jugendbücher sein können, beweist zum Beispiel Allan Stratton. Er hat ein großes, wichtiges und schmerzhaftes Buch geschrieben über das Dahinsiechen von Aids-Kranken in Afrika.

Ein Feature von Florian Felix Weyh | 25.03.2006
    Ich kann mich nicht erinnern, Mama oder Papa jemals jubeln gehört zu haben, dass Bille, Lena oder ich noch leben. Sogar als Lena hinten im Garten bei Herrn Jensen, der Bienen züchtet, von einem Bienenschwarm angegriffen wurde und vier Stiche abbekam, die alle knallrot und dick wurden, da sagte Papa nur, sie solle nicht so einen Wirbel machen. "Von Bienenstichen stirbt man nicht", hat er gesagt, obwohl Lena schrecklich geweint hat. "Und außerdem wisst ihr ganz genau, dass ihr nicht in Jensens Garten gehen sollt. Wer die Bienen ärgert, den ärgern die Bienen auch! Merkt euch das!"

    Ja, so war Papa, wenn es um eine von uns ging. Er strich zwar Salbe auf Lenas Stiche und wischte ihr die Tränen weg und kümmerte sich um sie, bis sie sich beruhigt hatte. (...) Wenn Bo aber mit voller Absicht den größten Quatsch machte, dann verteidigte ihn Papa sogar noch. Das war doch wohl mehr als ungerecht! Und das sagte ich Papa auch. Und noch ungerechter war es, dass wir für den gleichen Quatsch von Papa richtig ausgeschimpft worden wären, während Bo gelobt wurde. Und auch das sagte ich Papa. Und ganz im Geheimen fand ich eigentlich, dass Bo es sogar verdient gehabt hätte, wenigstens eine klitzekleine Ananasdose mitten auf seinen blöden Kopf zu kriegen. Doch das sagte ich Papa nicht.


    So spricht Martha. Martha ist elf Jahre alt, lebt mit drei Geschwistern zusammen, zwei Schwestern und einem Bruder ... und Martha hat ein Problem:

    " Ihr fällt einfach irgendwann auf, dass dieser kleine Bruder von ihr, der ist ein paar Jahre jünger. Sechs ist der, genau, das ist ja auch wichtig. Und der wird wirklich immer bevorzugt. Zuerst überlegt sie sich, ob es daran liegt, dass er ein Junge ist, und dann wird es immer gravierender und immer krasser und sie wird auch immer verzweifelter."

    Bo kriegte fast immer, was er wollte. Und wenn er etwas wollte, wollte er nicht nur ein bisschen, sondern Bo wollte meist alles.

    Bescheiden ist er nicht, der beinahe sieben Jahre alte, aufgeweckte, stets gut gelaunte Bo. Grenzen kennt er auch keine, was ihn in den Augen seiner Geschwister zur reinsten Nervensäge macht. Nach einem Besuch im Zirkus will er in einen Wohnwagen ziehen, und der Himmel gehört ihm auch - also die Hälfte davon! Sie nämlich hat er dem Himmelsbesitzer, einem Piloten aus der Nachbarschaft, gegen ein paar Lutscher abgehandelt.

    " Das ist eben so ein typisches Bo-Bild, "

    erklärt die Autorin Dagmar H. Mueller.

    " also so ein typisches, unbeschwertes Bild, wie es sein wird, wenn er - es ist jetzt natürlich ein christliches Bild - wie es sein wird, wenn er tot ist. Er hat da wirklich keine Angst vor, er spielt da sogar noch mit. Er stellt sich das lustig vor, wie er da oben alles machen kann, ja."

    "Und warum hat Herr Körner dir den Himmel verkauft?", fragte ich Bo.

    "Na, weil ich ihn haben wollte", antwortete Bo.

    "Aber warum wolltest du den Himmel haben?", fragte ich.

    "Na, um drin spielen zu können", sagte Bo.

    "Um drin spielen zu können?", wiederholte ich und setzte mich mit einem Ruck auf. Also wirklich, Bo erzählte ja eine Menge Unsinn, aber das war nun der größte Unsinn, den ich je von ihm gehört hatte. "Man kann doch im Himmel nicht spielen, Bo", sagte ich kopfschüttelnd, "wie kommst du nur auf diese Idee? Man kann hier unten auf der Erde spielen, aber doch nicht im Himmel!"

    "Kann man doch. Kann man sogar sehr gut! Kann man sogar viel besser als hier unten auf der Erde!", behauptete Bo.

    "So? Und wie willst du denn im Himmel überhaupt laufen?", fragte ich böse. "Da kann man doch gar nicht laufen, da gibt es doch nur Luft. Willst du etwa von Wolke zu Wolke hüpfen, was?" Und damit drehte ich mich naseschnaubend zur Seite. Bo schien etwas beleidigt.

    "Man braucht im Himmel gar nicht laufen", sagte er maulig, "man fliegt ja."

    "Oh, wie bist du dumm, Bo!", schnaubte ich verächtlich. "Flugzeuge fliegen im Himmel, aber doch nicht Menschen! Menschen können nicht fliegen."

    Diesmal schien ich ihn ernsthaft getroffen zu haben.

    "Können sie doch", sagte er zwar trotzig, aber ungewöhnlich leise. "Oh ja, das können sie. Im Himmel schon!"


    Bo wird seinen siebten Geburtstag nicht erleben. Er ist krank auf den Tod, und die Symptome seines Leidens - Blässe, Schwächeanfälle, ein plötzlicher Zusammenbruch - lässt erwachsene Leser auf Leukämie schließen, auch wenn die Krankheit im Buch namenlos bleibt. Aus gutem Grund, wie Dagmar H. Mueller erläutert:

    " Dann wäre es ja so, dass er wahrscheinlich durch diese ganze Chemotherapie auch hätte gehen müssen, dann wäre dieses Buch sehr dominiert gewesen von der Krankheit. Das wollte ich nicht. Ich wollte eben wirklich, dass das Buch eigentlich aus Gefühlen besteht. Also dass es wirklich um Gefühle geht: Zuerst diese Wut von der Martha über die Ungerechtigkeit, wie ihr Bruder immer bevorzugt wird. Und dann eben zuerst ihre Hilflosigkeit und dieses Sich-Aufbäumen "Nein, ich will das nicht, ich will nicht, dass mein Bruder sterben muss!". Sie weiß es ja, bevor er stirbt, und als er dann tot ist, eben diese endlose Leere und dieses "Wie soll ich das überleben können?"

    "Die Hälfte des Himmels gehört Bo" ist tatsächlich kein Krankheitsbuch, sondern ein Roman der Hinterbliebenen, des Zurückgelassenwerdens mit Seelenschmerzen. Ein Buch der Erinnerung, der Trauer und der Schuldgefühle, dass man zu Lebzeiten so oft unwirsch auf den Verstorbenen reagierte. Aber es ist auch ein Buch über die Liebe:

    "Warum tut es so weh, Papa?", fragte ich.

    Warum, warum, warum.

    "Wenn du nicht traurig wärst, würdest du nicht merken, wie doll du Bo lieb hast", antwortete Papa. "Wenn wir nicht alle traurig wären, hätten wir vorher nicht glücklich sein können. Die Traurigkeit ist der Preis, den wir für die Liebe zahlen müssen."

    Ich verstand nicht genau, was Papa damit sagen wollte. Aber es hat wohl etwas damit zu tun, dass man das eine nicht ohne das andere kriegen kann. Wenn mir jetzt nicht der ganze Körper vor Traurigkeit wehtun würde, dann hätte ich auch die Liebe nicht richtig fühlen können.

    "Aber was nützt es mir, dass ich Bo so lieb hatte, wenn es jetzt einfach nur wehtut?", fragte ich böse. Nein, ich schrie es fast. Wenn man sehr große Schmerzen hat, muss man manchmal laut schreien. Das hatte ich ja auch an Mama gesehen.

    "Du hattest ihn nicht lieb", verbesserte mich Papa, "du hast ihn lieb. Liebe geht nicht verloren." Aber Bos Leben ist verloren!, wollte ich brüllen. Was nützte mir da noch Liebe? Doch ich sagte nur: "Aber Bo wird bald nicht mehr da sein."

    "Das ändert an der Liebe überhaupt nichts", sagte Mama leise. "Sie wird immer noch da sein. Auch in hundert Jahren. Bos Liebe und unsere Liebe. Das ist ganz sicher. Liebe kann einem keiner wegnehmen."

    Und sie nahm mich in den Arm und küsste mich.


    " Trauer gehört einfach dazu, Trauer gehört zum Leben, Trauer gehört zur Liebe, sonst hätte man eben vorher auch nicht das Gute gehabt, wenn man jetzt nicht auch ein bisschen Schmerz erfährt. Mir war's auch wichtig zu zeigen, dass Zeit nicht wirklich wichtig ist in unserem Leben ... eigentlich, obwohl die für uns ja so wahnsinnig wichtig ist. Und dass dieser Bo einfach ein sehr, sehr schönes Leben hatte. Der war einfach unheimlich glücklich, das war wirklich ein Mensch, den wir als Erwachsene alle beneiden, weil der jede Minute genossen hat. Und wenn man sagt: So, dann ist es irgendwann für ihn zu Ende, das ist für ihn kein Drama. Es war genug. Er war da, er hat gezeigt, wie er ist, und die Martha wird immer an ihn denken. Es wäre nicht anders, wenn er 30 geworden wäre oder wenn er 60 geworden wäre. Sie denkt jetzt genauso viel an ihn, als wenn er länger gelebt hätte. Und das ist eben auch eine von den Botschaften. Und dazu ist es wichtig gewesen, eine ganz positive Bo-Figur zu schaffen."

    Das ist in der Tat die große, bewundernswerte Stärke dieses außergewöhnlichen Kinderromans, der eine unglaublich traurige Geschichte über lange Strecken hinweg fröhlich erzählt. Nicht aufgesetzt fröhlich, um dem schweren Thema auszuweichen, auch nicht verkitscht-fröhlich, sondern vital-fröhlich, aus einer tiefen Lebensbejahung heraus. Die warmherzige Schilderung von Bos Streichen, die Versöhnungsfähigkeit der streitenden Geschwister, ja die trotz aller Belastungen intakt bleibende Großfamilie geben einen Rahmen ab, in dem Dagmar H. Mueller etwas erzählen kann, was sonst auf dem Buchmarkt für Kinder schwer unterzubringen ist. Sofort fragt sich der erwachsene Kritiker, dem wie jedem Leser dieses Buches gegen Ende die Tränen kommen, ob Kinder solch starke Gefühle überhaupt ertragen?

    " Ich denke, es kommt wirklich sehr darauf an, wie die Kinder beim Lesen begleitet werden. Also ich hab's meinem eigenen Sohn, der ist 12, auch erst gegeben, als es gedruckt war, also als das Buch fertig war, und ich hab sofort auch mit ihm darüber geredet. Außerdem ist es für ihn sowieso ein bisschen einfacher, weil er weiß, ich hab das geschrieben, das ist nur eine Geschichte und nicht wirklich passiert. Aber ich hab eben gemerkt, dass es ihn sehr bewegt hat. Dass es ihn schon auch sehr traurig gemacht hat und dass es ihn sehr mitgenommen hat, und dass es schon wichtig ist, dass man mit den Kindern darüber redet. Und ich finde eben, dass es nicht wirklich nötig ist, dass man in der eigenen Familie jetzt einen Verlust hat. Man kann mit den Kindern das Buch lesen und dann sagen: So, das gehört zum Leben dazu, irgendwann wird dir mal ein Freund sterben, oder irgendwann wird Tante Emma sterben oder sonst wer. Und dann kann man einfach denken: "Ja, es geht so weiter!" oder vielleicht auch anders, und das gehört einfach dazu."

    Bo starb an einem dunklen, grauen Vormittag kurz vor Weihnachten.

    Seinen siebten Geburtstag im Januar hat er nicht mehr erlebt.

    Mama und Papa haben die ganze Zeit bei ihm gesessen.

    Papa hat uns erzählt, dass Mama zum Schluss diese ganzen Maschinen und Stöpsel, die an Bo dranhingen, einfach abgemacht und sich zu Bo ins Bett gelegt hat. Dort ist er dann in Mamas Armen schließlich für immer eingeschlafen.


    " Es haben mich auch viele Freunde gefragt, die dann schon das Manuskript gelesen hatten und dann auch ein bisschen bewegt waren und sagten: "Oh Gott, aber warum muss es denn ausgerechnet ein Kind sterben?" Aber ich hab mich dann hinterher gefragt, und hab gedacht: Ja ne, das ist genau der Grund! Also es soll in diesen Kindergefühlen bleiben, es soll darin bleiben, was die Kinder untereinander auch empfinden. Und wäre es jetzt ein Erwachsener gewesen, wäre auch sofort eine ganz andere Dynamik reingekommen. Und die Erwachsenen hätten auch anders mit dem Kind geredet. Ich wollte wirklich, dass die Martha, diese Protagonistin, ihre Gefühle mit ihrem kleinen Bruder auf einer Ebene sozusagen abmacht. Und ich glaube, deswegen habe ich ein Kind sterben lassen. Es war jetzt nicht, dass es noch dramatischer sein sollte, sondern es ging mir da wirklich um diese Kinderebene."

    Prädikat: rundum gelungen. "Die Hälfte des Himmels gehört Bo" ist bewegend, tröstlich und wahr - und ein Buch, dem man viele Leser wünscht. Denn das Leben wird nicht länger, wenn man vor dem Tod die Augen verschließt, sondern gelingt denen am besten, die das Ende stets bedenken. Nur dann lässt sich irdisches Glück in seiner Fülle auskosten.

    Das ist Dick Bauch. Dick Bauch gehört zu uns, weil wir Dick Bauch sind. Helme Heine, der berühmte Illustrator und Kinderbuchautor, hat die Schöpfungsgeschichte neu geschrieben und gemalt und den befreundeten Komponisten Reinhard Seifried gebeten, eine passende Musik hinzuzufügen. Buch und CD gehören in diese Sendung hinein, weil ohne Tod die Schöpfung unvollständig wäre. Doch zuvor zwei andere Bilderbücher: "Erik und das Opa-Gespenst" und "Abschied von Opa Elefant". Beide verraten schon im Titel, dass sie sich dem Thema aus vertrauter Perspektive nähern: Der Tod kommt für kleine Kinder meist als Verlust eines Großelternteils daher. Das folgt den Gezeiten des Lebens, manchmal vorhersehbar, manchmal unerwartet. Ersteres ist schwerer erträglich, weil das Kind dann das Sterben eines nahen Angehörigen - wie bei Bo - antizipieren muss. Isabel Abedi hat in ihrem Bilderbuch "Abschied von Opa Elefant" die Form einer Tiergeschichte gewählt und die vielen Überlieferungen, dass Elefanten wie wir Menschen ein Konzept vom Tod zu haben scheinen, in eine sensible Fabel umgeformt. Opa Elefant kommt zu seinen Enkeln, um sich zu verabschieden, er will sich zum Sterben auf den Elefantenfriedhof zurückziehen. Behutsam nimmt das Buch die tradierten Vorstellungen von Himmel und Hölle auf, streift das Thema Wiedergeburt und findet in den mild-humorvollen Pastellzeichnungen von Miriam Cordes einen kongenialen künstlerischen Ausdruck. Abschied zu nehmen, war hingegen Eriks Opa nicht vergönnt: Ein Herzinfarkt traf ihn mitten auf der Straße.

    Zu Opas Beerdigung gingen sie in die Kirche. Ein Pfarrer im schwarzen Talar hielt eine lange und nicht besonders lustige Rede auf Opa. "Holger war ein Familienmensch", sagte der Pfarrer. In einem Meer aus Blumen stand ein Sarg. Im Sarg lag Opa. Daran musste Erik dauernd denken. "Was machen sie mit ihm?", flüsterte er.

    "Opa wird begraben", sagte Eriks Papa und nahm ihn in den Arm. "Und später wird Opa dann zu Erde."

    Erik versuchte sich vorzustellen, wie Opa zu Erde wird. Das fiel ihm schwer. Aber es stimmte alles nicht. Mamas Geschichte von den Engeln und auch Papas Gerede, dass Opa zu Erde wird. Denn noch in derselben Nacht kehrte Opa zurück.


    Nun sitzt er als Gespenst auf Eriks Nachttischchen, und Erik weiß nicht so recht, wie er damit umgehen soll. Anscheinend hat Opa etwas vergessen. Doch was? Beide kramen in ihren Erinnerungen, bis ihnen der rettende Einfall kommt: Opa will seinem Enkel nur auf Wiedersehen sagen! Auch in diesem dänischen Bilderbuch - Text: Kim Aakeson, Illustration: Eva Eriksson - dominiert der humorvolle Blick, wie ihn selbstredend auch Helme Heine im dritten Bilderbuch auf die Schöpfung wirft. Nachdem Welt und Natur zur Zufriedenheit Gottes geschaffen sind, entsteht der Mensch.

    "Für Kinder nicht zu kompliziert und für Erwachsene nicht zu einfältig" will der Komponist Reinhard Seifried sein, und das ist ihm rundum geglückt. Helme-Heine-Buch und beigefügte Seifried-CD ergeben zusammen ein multimediales Projekt, dem man etliche Stunden widmen kann. Gestorben wird - wie sollte es auch anders sein? - am Ende eines ausgefüllten Lebens in Moll:


    Ich bin allein im Büro von Batemans Bestattungen Zum Ewigen Licht. Es ist Montagmorgen und Mr Bateman ist mit einer neuen Sarg-Lieferung beschäftigt. "Ich komme gleich", hat er zu mir gesagt. "Setz dich in mein Büro und guck dir meine Fische an. Hinten an der Wand steht ein Aquarium. Auf dem Tisch liegen Zeitschriften, falls dir langweilig wird. Ach ja - tut mir Leid wegen deiner Schwester."

    Ein Buch, das mit solchen Sätzen beginnt, hat keine Vertuschung im Sinn. Der kanadische Autor Allan Stratton steuert sein Thema Aids in Afrika geradlinig an. Nicht in der Einzahl wird in diesem Jugendroman gestorben, sondern endemisch, an jeder Ecke, und der Beerdigungsunternehmer ist ein reicher Mann. Dennoch trifft der Buchtitel den Nagel auf den Kopf: "Worüber keiner spricht", heißt er, denn alles wird verklausuliert, in harmlose Bahnen gelenkt, damit sich der Verdacht auf Aids niemals erhärte. Die 14-Jährige Chanda ahnt freilich beim Tod ihrer kleinen Schwester, einem zeitlebens kranken Säugling, dass etwas in diesem Weltbild aus Schicksal und Unabwendbarkeit nicht stimmt:

    Wenn jemand sagt: "Es tut mir Leid", klingt das nett. Aber ich hasse Sätze wie: "Es ist am besten so. Sara ist bei Gott." Ich möchte sagen: "Wenn es so am besten ist, warum bringt ihr euch dann nicht um?" Was ich auch hasse, ist: "Vertraue auf Gott. Er wird seinen Grund haben." Ich möchte sagen: "Ach ja? Ist das derselbe Grund, warum er dich blöde und hässlich gemacht hat?" Wenn ich solche Sachen denke, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Ich möchte, dass Sara bei Gott ist. Ich möchte glauben, dass es einen Grund gibt. Aber mehr als alles andere möchte ich, dass Sara lebt. Ich kann nicht ertragen, dass sie tot ist. Und ich hasse Leute, die versuchen mir einzureden, es könnte etwas Gutes haben. Am schlimmsten ist Mrs Tafa. Als wir bei Bateman warteten, beugte sie sich zu Mama und sagte: "Tröste dich, Lilian. Das arme Ding hat das Elend hinter sich gebracht."

    "Das arme Ding?" Ich hatte Lust, sie zu schlagen.


    Besonders bigott verhält sich jene Nachbarin, Mrs. Tafa. Sie, die den einzigen Sohn durch einen Jagdunfall verlor, will alles von ihrem Haus fernhalten, was auch nur entfernt nach der - nie wörtlich ausgesprochenen- Seuche riecht. Chandas beste Freundin Esther, deren Eltern einem mysteriösen Fieber erlagen, gilt Mrs. Tafa als leibhaftige Verkörperung der Gefahr. Doch mit Wegschauen ist niemandem geholfen, längst hat die Seuche alle im Griff: Nach Sara stirbt Chandas Stiefvater Jonah. Ein Unfall, lügt sich die Nachbarschaft zurecht, obwohl er aidstypisch bis auf die Knochen abgemagert war. Dann setzen bei Chandas Mutter die Krankheitssymptome ein. Wie üblich wiegeln die Erwachsenen ab, eine Geistheilerin spricht von einem Fluch, weswegen sich die Mutter mit Angehörigen ihres Dorfes versöhnen müsse. Also fährt sie fort, in ihre alte Heimat. Lange bleibt sie weg, bis ihre Tochter die Trennung nicht länger erträgt. Sie will ihr folgen:

    Ich marschiere die Straße entlang, Mrs Tafa rollt im Auto hinter mir her. Sie ruft durchs offene Fenster: "Chanda - wie kommst du darauf, dass deine Mutter dich sehen will?" Ich blicke stur geradeaus und gehe weiter. "Warum sollte sie das nicht wollen?" Ich fange an zu rennen, aber Mrs Tafa klebt an mir wie eine Fliege am Leim. "Vielleicht hat deine Mama nie erwartet, wieder nach Hause zu kommen. Vielleicht war ihr Abschied für immer."

    "Du lügst."

    "Ach ja? Ich habe ihr ein Versprechen gegeben, Chanda. Ich darf dich nicht nach Tiro fahren lassen."


    Denn das ist die Wahrheit: Auch Chandas Mutter liegt im Sterben, hat sich zurückgezogen, um ihren Kindern den Anblick des Verfalls zu ersparen. So wie sich Mrs. Tafas Sohn in Wirklichkeit umgebracht hat, als er die HIV-Diagnose erfuhr, und keinem Unfall erlag. So wie sich Chandas beste Freundin Esther auf dem Straßenstrich ansteckt und nur noch auf westliche Medikamente hoffen kann, um ihr Leben zu verlängern. So wie Tausende und Abertausende in Afrika dahinsiechen, weil die Tabuisierung der Krankheit ihre Ausbreitung befördert. Allan Stratton hat ein großes, wichtiges, schmerzhaftes Buch geschrieben. Eine Herausforderung für jugendliche Leser ab 14, denn es erspart ihnen nichts: Der Tod ist hier so eng mit der Frage nach den Möglichkeiten der eigenen, erwachenden Sexualität verknüpft, dass der exotische Schauplatz kaum dazu beiträgt, die Sache fern von sich selbst zu halten. "Worüber keiner spricht" gehört ebenfalls zu den Büchern, deren Lektüre ohne Tränen nicht zu haben ist - doch Tränen, das wissen wir alle, Tränen schenken Erleichterung. In Strattons Buch erleben nicht nur die Protagonisten ihre Katharsis, indem sie das Joch der Verschleierung abwerfen - Mrs Tafa an prominenter Stelle -, auch der Leser steht am Ende wie neugeboren da. Es gibt keine Unsterblichkeit, aber ein Leben vor dem Sterben, das sich jede Minute lohnt. Darum zum zweiten Mal in dieser Sendung das Prädikat "rundum gelungen". Schließen wir sie mit einem angemessenen Abschied; die Größe von Literatur erweist sich in der Schlichtheit von Sterbeszenen.

    Ich lag auf meiner Matte neben Mama. Soly und Iris waren mit Esther nebenan. Aus irgendeinem Grund wachte ich auf. Mama schaute mich an. Ich stützte mich auf einen Ellbogen. Mama ist im Koma, dachte ich. Träume ich? "Keine Bange", sagte sie. "Du bist wach. Ich bin nur kurz zurückgekommen, um mich zu verabschieden."

    "Nein", bat ich. "Noch nicht. Bitte, noch nicht."

    "Du schaffst das", lachte sie leise. "Ich glaube an dich."

    Und sie starb.

    Ich ging zu Iris und Soly rüber. Von der Tür aus sah ich die beiden mit Esther am Fenster stehen. "Sie sind gerade aufgewacht", flüsterte Esther. Ich wollte ihnen sagen, dass Mama gestorben ist, da rief Iris: "Chanda, komm schnell." Sie deutete auf etwas vor dem Fenster. Ich lief zu ihr. Da, auf der Schubkarre, hockte ein Storch. Er bog seinen Hals in unsere Richtung. Soly und Iris winkten. Der Storch hob seinen rechten Fuß, als wollte er uns segnen. Dann krümmte er seinen Rücken und flog los. Dreimal kreiste er über unserem Garten, bevor er in die Nacht verschwand. Ich drückte meine Kleinen an mich.
    "Das war Mama, stimmt's?", flüsterte Soly.

    Mein Verstand sagte Nein, aber mein Herz sagte: "Ja."

    "Ist sie jetzt tot?"

    "Ja."



    Bibliographie
    Kim Fupz Aakeson: "Erik und das Opa-Gespenst"
    Mit Bildern von Eva Eriksson
    Aus dem Dänischen von Dagmar Brunow
    Oetinger - 10,90 Euro

    Isabel Abedi: "Abschied von Opa Elefant"
    Mit Bildern von Miriam Cordes
    Ellermann - 12 Euro

    Helme Heine: "Die Schöpfung"
    Mit Musik von Reinhard Seifried
    Beltz & Gelberg
    Buch und CD 22,90 Euro

    Dagmar H. Mueller: "Die Hälfte des Himmels gehört Bo"
    Mit Bildern von Michael Bayer
    Thienemann Verlag
    220 Seiten - 12,90 Euro

    Allan Stratton: "Worüber keiner spricht"
    Aus dem Englischen von Heike Brandt
    dtv
    272 Seiten - 7,50 Euro