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Trend zum Spektakel

Stefan Keim, Mitglied der Jury zum Berliner Theatertreffen, ist von der Auswahl überzeugt. Man habe sich viel in der freien Szene bewegt und nach Ungewöhnlichem Ausschau gehalten. Mit Joachim Meyerhoffs Selbstdarstellungsstück "Alle Toten fliegen hoch" habe man eine unglaublich lebenspralle und wahnsinnig witzige Geschichte im Programm.

Stefan Keim im Gespräch mit Karin Fischer | 10.02.2009
    Karin Fischer: Die Auswahl zum Berliner Theatertreffen, das jedes Jahr im Mai stattfindet, ist getroffen, und es sind wieder einmal die großen Regie-Persönlichkeiten, die im Mittelpunkt stehen: Jürgen Gosch, Andreas Kriegenburg und Christoph Marthaler. Mit einem kleinen Ausschlag ins Berserkerhafte, als da wären Martin Kusej, Christoph Schlingensief und vor allem Volker Lösch. Der hat es mit seinem Hamburger "Marat" nach Peter Weiss nun endlich zum Theatertreffen geschafft, obwohl viele Kritiker das schon für seinen höchst umstrittenen Dresdner "Weber" gefordert hatten. Lösch lässt in Hamburg die Namen reicher Bürger samt Wohnort auf der Bühne verlesen. Frage an Stefan Keim, der Mitglied der Jury ist: Ist das Ihr Stück zur Finanzkrise?

    Stefan Keim: Es ist ja schon eine Aufführung, die extrem viel Furor ausgelöst hat und viele Diskussionen, wobei wir lange darüber diskutiert haben, ob wir wirklich diesen groben und sehr direkten Lösch einladen sollen oder die etwas feinere Arbeit "Manderlay", die Adaption eines Film von Lars von Trier aus Stuttgart, wo er ja auch wie in Hamburg die Frage stellt, ob wir in unserer Gesellschaftsform überhaupt weiterarbeiten können. Wir haben uns dann für die Hamburger Inszenierung entschieden, weil sie eben noch ein bisschen kraftvoller ist und weil sie eben ja auch so etwas ist wie eine Neuentdeckung des Agitproptheaters, also schon das Stück zurzeit. Ob wir damit in Berlin jetzt auch noch einen Skandal auslösen, das war eigentlich mehr oder weniger zweitrangig.

    Fischer: Im "Wunschkonzert" von Kroetz wird der Selbstmord einer Frau von Katie Mitchell wie das Making-of eines Films inszeniert, das ist die Kölner Inszenierung. Christoph Schlingensief hat nach seiner Krebserkrankung der eigenen Angst bei der RuhrTriennale eine veritable Kirche erbaut. In Goschs "Möwe" am Deutschen Theater Berlin gibt es keine Rettung in der Liebe wie in der Kunst. Und Joachim Meyerhoffs Selbstdarstellungsstück heißt "Alle Toten fliegen hoch". Man könnte der Jury einen gewissen Totenkult unterstellen.

    Keim: Ja, wobei es ja in eigentlich fast allen diesen Stücken – das "Wunschkonzert" aus Köln muss ich da ausnehmen – schon auch darum geht, das ist ja oft bei diesen Todesbeschreibungen so, das Leben besonders intensiv zu erfahren. Also besonders Joachim Meyerhoff, dieses ja außergewöhnliche Projekt, wo wir auch drüber diskutiert haben, ist das nicht eigentlich eine Lesung, wo dieser Schauspieler da sein Leben oder vielleicht auch seine Fantasien, das vermischt sich auf eine aufregende Art und Weise, in einen Text gebracht hat, den man eigentlich auch als Roman veröffentlichen könnte. "Alle Toten fliegen hoch", er ist in der Psychiatrie aufgewachsen, aber es ist eine unglaublich lebenspralle und wahnsinnig witzige Geschichte. Also wir haben Tränen gelacht in dieser Aufführung in Wien. Und bei Christoph Schlingensief ist das ja völlig anders, aber auch gerade durch diese Todeserfahrung, durch diese absolute Verzweiflung, die er in dieser dicken, großen Performance der RuhrTriennale so unglaublich in eine Form gebracht hat, kommt man natürlich auch ganz nah an das ran, was es eben wirklich heißt zu leben und zu überleben.

    Fischer: Sie haben Katie Mitchell ausgenommen aus Ihrer Schilderung, ich nehme an wegen der doch sehr unterschiedlichen Handschrift, die sie hat. Was sind die ästhetischen Spielarten, die Sie eingeladen haben?

    Keim: Ja, ich habe sie vor allen Dingen deswegen ausgenommen, weil sie eben ja wirklich ein Stück inszeniert hat, in dem es keine Hoffnung mehr gibt. Das ist ja wirklich die Geschichte des Sterbens einer Frau, eine Geschichte, die absolut hoffnungslos ist. Es ist vor allen Dingen ja ästhetisch so unglaublich reizvoll, weil es ja eine Performance ist, wo man sieht, wie ein Film auf der Bühne ganz genau choreographiert hergestellt wird. Verschiedene Schauspieler nehmen da diese eine Rolle ein. Die eine sieht man immer im Gesicht, die andere macht manchmal nur die Hände, andere schieben Kameras durch die Gegend, bewegen Scheinwerfer. Also wir haben uns auch schon natürlich angeschaut, was sind Aufführungen, die Impulse geben auch ästhetischer Natur. Das tut Christoph Schlingensief, das tut in einer großen Art und Weise auch Katie Mitchell. So eine Verbindung von Film und Theater habe ich noch nie gesehen.

    Fischer: Ist neben Morbidität und Formwillen auch Spiellust erkennbar, sind Geschichten erzählt worden

    Keim: Ja absolut. Also ein Beispiel eben Joachim Meyerhoff, der aus dem Lesen heraus einen Kosmos wirklich von den unterschiedlichsten und skurrilen Figuren entfaltet. Und natürlich auch bei Jürgen Gosch, der ja gleich mit zwei Inszenierungen eingeladen ist. Das ist ja wirklich der große Schauspieler-Regisseur, sowohl der "Tschechow" aus Berlin als auch "Hier und jetzt", eine Uraufführung von Roland Schimmelpfennig aus Zürich. Die Aufführung hat ja auch dem gesamten Theatertreffen jetzt seinen Titel gegeben, "Hier und jetzt". Das sind einfach Aufführungen, in denen wirklich das Leben pulsiert, in dem die Schauspieler so in die Tiefen hineingehen, wie man es selten sieht auf deutschen Bühnen.

    Fischer: Was persönlich fehlt Ihnen? Das ist ja die Frage, die immer kommen muss: Was fehlt?

    Keim: Man könnte natürlich ein bisschen überlegen, ob wir wirklich genug klassisches Stadttheater eingeladen haben, das so von den richtig normalen Aufführungen, die man so landauf, landab an den Stadttheatern sieht, ob da wirklich genug bei uns ist. Wir haben diesmal eigentlich sehr genau nach dem Ungewöhnlichen geschaut, wir haben uns auch viel in der freien Szene bewegt. Und andererseits muss ich gestehen, mir fehlt, also als Jurymitglied natürlich, diesmal wirklich nichts, weil ich der Meinung bin, auch das, was so, ja eigentlich so als klassisches großes Theater gilt, "Der Prozess" von Andreas Kriegenburg aus München, das ist so originell, dass man es einfach so noch nicht oft gesehen hat.

    Fischer: Herzlichen Dank. Das war Stefan Keim von der Theatertreffen-Jury.