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Triumph der Zeichnung über die Unzulänglichkeit des Lebens

In der Wiener Albertina, dem Haus für Druckgrafik in Europa, widmet sich eine 120 Werke umfassende Ausstellung den Zeichnungen von Michelangelo. Von den antikisierten Männerakten bis zur manieristischen Ganzkörperfigur meißelte Michelangelo mit Feder und Kreide Körper, die das Fleisch feiern und als Vergängliche hinter sich lassen.

Von Beatrix Novy | 16.10.2010
    600 Zeichnungen hat Michelangelo Buonarroti der Nachwelt hinterlassen - das ist wenig für einen Künstler, der fast 89 Jahre alt wurde und seit seinem 13. Lebensjahr, also 75 Jahre lang gearbeitet hatte, auch wenn er sich in erster Linie als Bildhauer sah, dann erst als Maler, Architekt und Zeichner. Nur 600 Zeichnungen blieben übrig, weil Michelangelo zweimal in seinem Leben große Teile dieses zeichnerischen Werks verbrannte. Was ihm nicht gut genug erschien, stellt heute natürlich einen schmerzlichen Verlust für die Kunstgeschichte dar - zumal auch noch um die Echtheit der erhaltenen Zeichnungen erheblich gestritten wird. So stehen die 100 Zeichnungen Michelangelos, die in der Wiener Albertina ausgestellt sind, quasi unter besonderer Beobachtung. Die Frage nach der Authentizität schwebt nicht nur über den an farbigen Wänden sorgsam und sparsam gehängten Blättern, sie wird unumwunden angesprochen. Ginge es nach manchen Kunstwissenschaftlern der Vergangenheit und Gegenwart, wäre die Zahl 600 zu hoch, wären etliche Zeichnungen, auch unter denen, die jetzt in Wien zu sehen sind, von Michelangelo-Schülern oder Kopisten. Mit ihren Argumenten setzt sich der Einführungstext im Katalog der Albertina in aller Ausführlichkeit auseinander. Seit Bernard Berenson 1903 nur ganze 220 Blätter als echte Michelangelos akzeptierte, ist der Streit mächtig hin- und hergegangen: Jetzt musste verglichen werden: Fraglose Zeichnungen des Meisters mit fragwürdigen, anderen Künstlern zugeschriebene Zeichnungen mit deren eigenem Werk usw. - da mischt sich der schimmerlose Kunstgenießer lieber nicht ein, aber sieh da, die Debatte liest sich äußerst spannend, außerdem gibt sie Einblick in die Eigenarten, Methoden und Techniken des Zeichners Michelangelo und seiner Schüler. Wie viel allein über seine Art zu schraffieren zu sagen ist! Und wie fasziniert man daraufhin diese Schraffuren bewundert: wie sie schräg oder gerade, über Kreuz oder gewellt die Schattierungen angeben. Wie sicher schon der ganz junge Michelangelo, eben erst als 13jähriger von seinem Vater nach Florenz, in die Werkstatt des Meisters Ghirlandaio gegeben, seine Linien zog, mit wechselnder Stärke und mit zweierlei Tinte, um den Zeichnungen eine gewisse Farbigkeit zu geben. "Kein anderer Künstler hat eine vergleichbare Linienführung" schreibt Kurator Achim Gnann im Katalog, andeutend, dass ein echter Michelangelo schon an einer Zeichnung zu erkennen sein könnte, auch dann, wenn sie, wie so oft, als Vorstudien zu Gemälden oder Skulpturen dienten. Das "Alphabet der Bewegungen und Körperhaltungen", das der Meister mit dem Stift durchbuchstabierte, sollte Generationen von Künstlern beeinflussen. Seine Skizzen zu dem nie verwirklichten Gemälde "Die Schlacht von Cascina" erregte enorme Bewunderung: In einer Rotte von Kriegern, beim Baden durch den Feind aufgestört, entsteht eine Bewegung, zu der jeder einzelne Körper beiträgt, festgehalten in dynamischen Positionen und Drehungen wie noch nie zuvor gesehen. Wie zielstrebig und konzentriert Michelangelo arbeitete, zeigt eine Studie für die Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle: die libysche Sybille und ihre Einzelteile. Da ist ihr schön ausgeführter Torso mit seitlich geneigtem Kopf, daneben etwas größer der einzelne Kopf, ein Fuß, zwei Zehen, eine Hand. Solche Blätter laden zum Vergleich mit dem fertigen Gemälde ein; andere stehen eindeutig für sich.

    Und da dominiert der männliche Akt, an dem Gesichtszüge, Gliedmaßen, Texturen durchkomponiert werden, diese muskulösen, anatomisch präzis erfassten Körper, dennoch nicht naturalistisch, vielmehr übersteigert, expressiv, eben michelangesk. Zwischendurch eine Haltungsstudie, die das Nützliche mit dem Witzigen verbindet: die nackte Frau, gebückt mit einer Hacke arbeitend, betrachtet von einem sitzenden Mann - da muss einem doch der Spruch einfallen: Hinter jeder erfolgreichen Frau steht ein Mann, der ihr auf den Arsch glotzt. Das Gemälde "Leda und der Schwan" wurde wegen seiner Laszivität in einer prüderen Epoche zerstört - geblieben ist der oft kopierte Karton mit der Vorzeichnung. Eine atemberaubend sinnliche, großäugige Kleopatra zeichnete der 57jährige für seinen jungen Freund Tommaso de Cavalieri, Teil einer Serie von "göttlichen Köpfen". Aus dem Spätwerk des fromm gewordenen Künstlers zeigt die Ausstellung Kreuzigungs-Szenen, die Todeskälte spüren lassen.

    1563 gründete Giorgio Vasari in Florenz die erste Zeichenakademie. Die Kunst des Zeichnens war jetzt eigenständige Disziplin. Zu dieser Aufwertung hatte Michelangelo, der ein Jahr später starb, viel beigetragen.