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Triumph für Musik und Tanz

Igor Strawinskis Ballettmusik wurde 1913 das erste Mal unter Tumulten in Paris aufgeführt. Unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim und mit der Choreografie von Sasha Waltz wurde das Werk mit Expressivität und Dramatik in Berlin gezeigt.

Von Elisabeth Nehring | 28.10.2013
    Maria Marta Colusi steht nackt und bleich auf der Bühne, schwer atmend, verschwitzt, erschöpft. Das lange Haar klebt ihr am Körper und als tanzte sie um ihr Leben, holt sie noch einmal alles aus sich heraus. Ein Schrei entfährt ihr in die Musik; sie kämpft und doch muss sie schließlich aufgeben. Die Erde hat ihr Opfer bekommen. Ein letztes Mal haut uns der Strawinsky um die Ohren, dann ist die Vorstellung zu Ende, auch wenn der Vorhang nicht fällt.

    Noch mehr als jede andere der überwältigenden Szenen der 40 "Sacre"-Minuten markiert dieses Finale die gravierenden Unterschiede zwischen den Ergebnissen, die künstlerisch erreicht werden können: Als Sasha Waltz ihre tänzerische Version des "Sacre" im Mai dieses Jahres in Paris zeigt – damals einstudiert mit Tänzern des legendären Mariinsky-Balletts aus St. Petersburg – war ihr "Sacre" ein gutes Stück. Deutlich erkennbar die Arbeit mit den hochgezüchteten, klassischen Ballerinen und Ballerinos; deutlich sichtbar deren Ernsthaftigkeit, der Choreografin in ihrer so gar nicht ätherischen Bewegungssprache zu folgen. Tänzer, Kostüme, Licht – alles stimmte, alles von erlesener Feinheit. Die Energie? Verhalten-temperamentvoll.

    Dagegen: dieselbe Choreografie zur selben Musik mit den Tänzern der Sasha-Waltz-and-Guests-Kompanie: eine Überwältigung! Angetrieben von der fantastischen Staatskapelle, dirigiert von Daniel Barenboim, geben sie nicht ihr bestes, sondern alles. Ihre absolute Losgelassenheit geht bis an eine existenzielle Grenze – das höchste, was Theater erreichen kann. Die körperliche, mimische, emotionale und mentale Expressivität des Tanzes, die schonungslose Dramatik weit aufgerissener Augen und Münder, die Verzweiflung und der Kampf auf der Bühne erscheinen als notwendige Korrespondenzen zur Musik Strawinskys. Die Energie, die im Aufeinanderprall der knapp 30 Tänzer auf der Bühne in verschiedenen Gruppierungen und Konstellationen entsteht, wird aus der musikalischen Wucht geboren und entspricht ihr vollkommen. Ein triumphaler Abend für Musik und Tanz! Für Choreografin und Dirigenten, die Staatskapelle und die Sasha-Waltz-and-Guest-Kompanie. Und auch eine Erschütterung, der sich wohl kaum ein Zuschauer im ausverkauften Haus entziehen konnte.

    Der Wirkungsunterschied zwischen den Sacre-Vorstellungen des Mariinsky-Balletts und der eigenen Kompanie ist bezeichnend und weist vor allem auf die Unersetzlichkeit des eigenen Ensembles für eine Choreografin wie Sasha Waltz. Künstlerische Höchstleistungen entstehen selten ‚auf Besuch’, sondern wachsen fast immer in langjähriger Kontinuität und Vertrautheit.

    Dass es allerdings auch genau umgekehrt sein kann, hat dieser dreiteilige Abend ebenfalls gezeigt: Die Liebesszene, ein Ausschnitt aus dem von Sasha Waltz für die Pariser Oper choreografierten Ballett "Romeo und Julia" zur Musik von Hector Berlioz, bestach mit großer Anmut und Natürlichkeit. Vor allem Emanuela Montanari, ein Star der Mailänder Scala, vereinte als jungmädchenhafte Julia auf vollendete Weise den klassisch-romantischen Balletthabitus mit dem kraftvollen, zeitgenössischen Gestus von Sasha Waltz.

    Die Uraufführung "L’Après-Midi d’un Faune" zur Musik von Claude Debussy hingegen blieb, trotz Sasha Waltz’ Tänzern sowie starker Farben auf Bühne und Kostümen, noch etwas unentschieden und blass.

    Doch dass die Zusammenarbeit mit den Tänzern der Mailänder Scala mehr überzeugte, als die kurze UA mit der eigenen Kompanie macht die These, dass es für den größten künstlerischen Output neben Freiheit auch Beständigkeit braucht, nicht weniger richtig. Künstlerischer Produktion bleibt – auf jeder Ebene und in jeder Höhe – stets ein unkontrollierbares Moment inne. Ein Grund mehr, ihr einen langen Atem, also die nötige Basis und Sicherheit zu verschaffen.