Katja Lückert: Baukunst solle einen Stellenwert jenseits des rein ökonomischen Aspekts haben. Er hoffe, einmal eine Stadt zu schaffen, in der menschliche Sittlichkeit den Vorrang habe und nicht die Kolonialisierung und der Verkehr. Das sagte noch vor einigen Jahren Meinhard von Gerkan, Architekt des Hamburger Architekturbüros Gerkan, Marg und Partner, das zu den erfolgreichsten Büros in Europa gehört. Zu ihren Bauten zählen unter anderem die Flughäfen für Berlin-Tegel, Algier und Stuttgart, die neue Messe Leipzig und jetzt der neue Berliner Hauptbahnhof. Die Frage geht an Heinrich Wefing von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Herr Wefing, wenn so viel von Verstümmelung die Rede ist, wie sieht sozusagen der Rest von Gerkans Entwurf aus?
Heinrich Wefing: Es ist trotz der Verstümmelung, und es ist eine Verstümmelung, es ist trotz der Verstümmelung ein grandioser Bau. Aber es ist eben die Chance vertan worden, ein wirklich weltbedeutendes Bauwerk zu errichten. Und ich sage das nicht leichtfertig, weil die Berliner immer leicht dazu neigen, von Weltbedeutung zu sprechen. Dies ist ein beispielloser Bahnhof, von seiner Konzeption, von seiner Lage, von seiner Bedeutung für die Bahn selbst. Und umso unverständlicher ist es, dass sie diese Chance nicht genutzt hat.
Zu sehen ist im Stadtbild die Kreuzung von zwei bedeutenden Eisenbahntrassen, die im Grunde, wenn man nur etwas pathetisch formuliert, Paris mit Petersburg und Kopenhagen mit Rom verbinden. Also ein wirkliches europäisches Achsenkreuz, das Meinhard von Gerkan mit seiner Architektur im Stadtraum markiert hat. Wie hat er das getan? Er hat über die oberirdische Stadtbahntrasse ein sehr langgestrecktes, das von Ihnen erwähnte langgestreckte, gläserne, leicht geschwungene, sehr elegante Dach gelegt. Und dieses Dach taucht nun unter zwei Bügelbauten hindurch, die die unterirdische Nord-Süd-Achse markieren, also dass im Stadtraum für jedermann erlebbar ist, hier ist ein Kreuzungsbahnhof. Kein Kopfbahnhof, kein Bahnhof, wo die Züge nur durchfahren, sondern ein Bahnhof, in dem sich tatsächlich zwei Linien kreuzen. Und wenn man in den Bahnhof hineingeht, dann kann man das auch erleben. Dann steht man auf einem Tiefbahnsteig viele Meter unter der Erde und 30 Meter über einem aufgeständert auf einer Brücke saust ein zweiter ICE über die Köpfe hinweg. Das ist schon ein grandioses Erlebnis.
Lückert: Wo liegen denn, abgesehen jetzt von dem Dach, die Stärken des Gebäudes, wo die Schwächen?
Wefing: Die entscheidende Stärke scheint mir zu sein, dass dieser Bau etwas leistet, was Bahnhöfe und Flughäfen dieser Tage in den seltensten Fällen nun noch leisten. Er gibt nämlich auf selbstverständliche und einleuchtende und unaufdringliche Weise Orientierung. Wer aus der Bahn aussteigt, und das werden die meisten an diesem Bahnhof sein - 70 Prozent der 300.000 Fahrgäste, die die Bahn dort täglich erwartet, werden umsteigen dort - wer also aus der Bahn aussteigt, der weiß sofort, wo oben und unten ist, wo er hingeht, wo draußen und drinnen ist, wo die Ausgänge sind und wo er einkaufen kann. Und das tut Meinhard von Gerkan, indem er Tageslicht bis auf den tiefsten Punkt dieses Bahnhofs, fast 40 Meter unter dem Glasdach, hinabfallen lässt. Und dieses Licht gibt auf eine selbstverständliche und tatsächlich einleuchtende Weise, wenn Sie gestatten, Orientierung.
Lückert: Im November soll im Urheberrechtsstreit zwischen von Gerkan und der Deutschen Bahn entschieden werden. Dann könnte auch entschieden werden, ob seine Pläne für den Bahnhof vollständig realisiert werden müssen. Von Gerkan behauptet ja, das sei ganz einfach, denn das Dach sei ja eh bezahlt und sei nur eingelagert und die Gewölbedecke könne auch binnen kurzer Zeit montiert werden. Warum also jetzt der Streit?
Wefing: Darüber kann ich auch nur spekulieren. Warum das Dach abgeschnitten worden ist, hat sich mir nie recht erschlossen. Die Begründung der Bahn, es sei aus Zeit- und Kostengründen erfüllt, will mir nicht recht einleuchten. In der Tat, das Dach ist schon komplett produziert worden. Die fehlenden, die abgeschnittenen, die abgezwackten 120, 130 Meter Glasdach liegen eingelagert und gut verpackt am Berliner Ostbahnhof und warten nur darauf, montiert zu werden. Aber für den ästhetischen Gesamteindruck wäre es ein großer Gewinn, wenn der Bahnhof noch komplettiert würde, so wie er von der Bahn in Auftrag gegeben worden ist und so wie er von Meinhard von Gerkan entworfen worden ist.
Lückert: Ein Bahnhof ist ja ein Ort, an dem man sich verabschiedet, an dem man sich wiedersieht. Spiegelt dieser Bahnhof auch ein wenig diese Poesie dieser besonderen Augenblicke wider?
Wefing:! Das Merkwürdige an diesem Bahnhof ist, aber das ist kein Vorwurf an den Architekten - oder weniger ein Vorwurf an den Architekten, als vielmehr an die Stadtplanung - dieser Bahnhof steht in einem urbanen Niemandsland. Es gibt fast so etwas wie einen mehrere hundert Meter breiten Todesstreifen, übertrieben gesagt. Es gibt einen mehr als zweihundert Meter breiten Streifen unbebauten Landes um diesen Bahnhof herum. Weil, das was wir gemeinhin mit Bahnhofsviertel assoziieren, also Bratwurstbuden und Taxistau und vielleicht auch Rotlichtmilieu, also das gibt es dort nicht. Aber er bietet dafür etwas anderes: Derjenige, der dort aussteigt oder umsteigt, hat ein wirklich atemberaubendes Panorama auf das Stadtzentrum Berlins. Eine Aussicht, wie sie fast an keiner anderen Stelle in der Stadt geboten wird.
Lückert: Heinrich Wefing war das. Heute Abend wird der Berliner Hauptbahnhof eröffnet.
Heinrich Wefing: Es ist trotz der Verstümmelung, und es ist eine Verstümmelung, es ist trotz der Verstümmelung ein grandioser Bau. Aber es ist eben die Chance vertan worden, ein wirklich weltbedeutendes Bauwerk zu errichten. Und ich sage das nicht leichtfertig, weil die Berliner immer leicht dazu neigen, von Weltbedeutung zu sprechen. Dies ist ein beispielloser Bahnhof, von seiner Konzeption, von seiner Lage, von seiner Bedeutung für die Bahn selbst. Und umso unverständlicher ist es, dass sie diese Chance nicht genutzt hat.
Zu sehen ist im Stadtbild die Kreuzung von zwei bedeutenden Eisenbahntrassen, die im Grunde, wenn man nur etwas pathetisch formuliert, Paris mit Petersburg und Kopenhagen mit Rom verbinden. Also ein wirkliches europäisches Achsenkreuz, das Meinhard von Gerkan mit seiner Architektur im Stadtraum markiert hat. Wie hat er das getan? Er hat über die oberirdische Stadtbahntrasse ein sehr langgestrecktes, das von Ihnen erwähnte langgestreckte, gläserne, leicht geschwungene, sehr elegante Dach gelegt. Und dieses Dach taucht nun unter zwei Bügelbauten hindurch, die die unterirdische Nord-Süd-Achse markieren, also dass im Stadtraum für jedermann erlebbar ist, hier ist ein Kreuzungsbahnhof. Kein Kopfbahnhof, kein Bahnhof, wo die Züge nur durchfahren, sondern ein Bahnhof, in dem sich tatsächlich zwei Linien kreuzen. Und wenn man in den Bahnhof hineingeht, dann kann man das auch erleben. Dann steht man auf einem Tiefbahnsteig viele Meter unter der Erde und 30 Meter über einem aufgeständert auf einer Brücke saust ein zweiter ICE über die Köpfe hinweg. Das ist schon ein grandioses Erlebnis.
Lückert: Wo liegen denn, abgesehen jetzt von dem Dach, die Stärken des Gebäudes, wo die Schwächen?
Wefing: Die entscheidende Stärke scheint mir zu sein, dass dieser Bau etwas leistet, was Bahnhöfe und Flughäfen dieser Tage in den seltensten Fällen nun noch leisten. Er gibt nämlich auf selbstverständliche und einleuchtende und unaufdringliche Weise Orientierung. Wer aus der Bahn aussteigt, und das werden die meisten an diesem Bahnhof sein - 70 Prozent der 300.000 Fahrgäste, die die Bahn dort täglich erwartet, werden umsteigen dort - wer also aus der Bahn aussteigt, der weiß sofort, wo oben und unten ist, wo er hingeht, wo draußen und drinnen ist, wo die Ausgänge sind und wo er einkaufen kann. Und das tut Meinhard von Gerkan, indem er Tageslicht bis auf den tiefsten Punkt dieses Bahnhofs, fast 40 Meter unter dem Glasdach, hinabfallen lässt. Und dieses Licht gibt auf eine selbstverständliche und tatsächlich einleuchtende Weise, wenn Sie gestatten, Orientierung.
Lückert: Im November soll im Urheberrechtsstreit zwischen von Gerkan und der Deutschen Bahn entschieden werden. Dann könnte auch entschieden werden, ob seine Pläne für den Bahnhof vollständig realisiert werden müssen. Von Gerkan behauptet ja, das sei ganz einfach, denn das Dach sei ja eh bezahlt und sei nur eingelagert und die Gewölbedecke könne auch binnen kurzer Zeit montiert werden. Warum also jetzt der Streit?
Wefing: Darüber kann ich auch nur spekulieren. Warum das Dach abgeschnitten worden ist, hat sich mir nie recht erschlossen. Die Begründung der Bahn, es sei aus Zeit- und Kostengründen erfüllt, will mir nicht recht einleuchten. In der Tat, das Dach ist schon komplett produziert worden. Die fehlenden, die abgeschnittenen, die abgezwackten 120, 130 Meter Glasdach liegen eingelagert und gut verpackt am Berliner Ostbahnhof und warten nur darauf, montiert zu werden. Aber für den ästhetischen Gesamteindruck wäre es ein großer Gewinn, wenn der Bahnhof noch komplettiert würde, so wie er von der Bahn in Auftrag gegeben worden ist und so wie er von Meinhard von Gerkan entworfen worden ist.
Lückert: Ein Bahnhof ist ja ein Ort, an dem man sich verabschiedet, an dem man sich wiedersieht. Spiegelt dieser Bahnhof auch ein wenig diese Poesie dieser besonderen Augenblicke wider?
Wefing:! Das Merkwürdige an diesem Bahnhof ist, aber das ist kein Vorwurf an den Architekten - oder weniger ein Vorwurf an den Architekten, als vielmehr an die Stadtplanung - dieser Bahnhof steht in einem urbanen Niemandsland. Es gibt fast so etwas wie einen mehrere hundert Meter breiten Todesstreifen, übertrieben gesagt. Es gibt einen mehr als zweihundert Meter breiten Streifen unbebauten Landes um diesen Bahnhof herum. Weil, das was wir gemeinhin mit Bahnhofsviertel assoziieren, also Bratwurstbuden und Taxistau und vielleicht auch Rotlichtmilieu, also das gibt es dort nicht. Aber er bietet dafür etwas anderes: Derjenige, der dort aussteigt oder umsteigt, hat ein wirklich atemberaubendes Panorama auf das Stadtzentrum Berlins. Eine Aussicht, wie sie fast an keiner anderen Stelle in der Stadt geboten wird.
Lückert: Heinrich Wefing war das. Heute Abend wird der Berliner Hauptbahnhof eröffnet.