Das Problem Nummer eins, das zentrale Problem, das ist die Perspektive für die Jugend: Große Verzweiflung, keine Zukunft – so sehen viele Jugendliche ihre Situation. Nun, unser Programm enthält viele Vorschläge zu diesem Thema: Wie können wir vor allem den Jugendlichen Perspektiven eröffnen? Ihnen Hoffnung geben? Das geht nur mit Arbeitsplätzen. Denn der Anteil der Arbeitslosen ist ziemlich hoch: Die wirtschaftliche Entwicklung ist seit einigen Jahren zum Stillstand gekommen, weil das Land zur Zeit eine Krise durchmacht.
Gemeint ist die blutige Auseinandersetzung zwischen dem algerischen Staat und seinen radikal-islamistischen Gegnern – sie forderte bislang geschätzte 200.000 Tote. Im Vergleich zu den 90er Jahren hat sich die Lage zwar beruhigt, doch noch immer werden jede Woche 50 bis 60 Menschen Opfer der politischen Gewalt. Der Terror begann vor zehn Jahren: In Algerien sollten die ersten freien Parlamentswahlen in der Geschichte des Landes stattfinden – erst 1988 hatte sich die FLN dem massiven Druck der Straße gebeugt und nach tagelangen Ausschreitungen mit mehreren hundert Toten andere Parteien zugelassen.
Unter den rund 60 neuen Gruppierungen war auch die "Islamische Heilsfront", die FIS. Deren Prediger kritisierten die große Kluft zwischen Arm und Reich, geißelten die Korruption des Establishments, und versprachen Lösungen für die sozialen Probleme. Etwa ein Drittel der Erwerbsbevölkerung war arbeitslos, für die Jugendlichen gab es keine Perspektive. Hinzu kamen ein dramatischer Wohnungsmangel und ein desolates Bildungssystem.
Die Gewalt eskalierte, als das Militär im Januar 1992 die ersten freien Parlamentswahl abbrach. Es verhinderte so einen sicheren Wahlsieg der FIS. Die Partei wurde verboten. Ihre radikalen Führer gingen in den Untergrund, und bewaffnete Gruppen erklärten der Regierung den Krieg. Die Machthaber in Algier schlugen mit gnadenloser Repression zurück. Der Terror eskalierte zu einem Krieg gegen die Zivilbevölkerung, in den 90er Jahren wurden immer wieder die Bewohner ganzer Dörfer massakriert. Bis heute ist unklar, wer für die Morde und Massaker im Einzelnen verantwortlich ist: Bewaffnete Islamische Gruppen, Todesschwadrone der Armee, getarnte Sicherheitskräfte der Regierung oder kriminelle Banden.
In Belcourt, einem der ärmsten Viertel der Hauptstadt Algier, ist vom Wahlkampf nichts zu spüren. Die Stellwände für die Plakate der Kandidaten sind fast leer, die Politik ist trotz der anstehenden Wahlen kein Gesprächsthema. Dabei war Belcourt einst eine Hochburg der radikalen Islamisten und galt deshalb in den 90er Jahren als "quartier chaud", als "heißes Pflaster". Nur zögernd lässt sich Abdelkader auf eine Diskussion ein; mehr als seinen Vornamen will der 32jährige nicht nennen.
Ich werde auf keinen Fall wählen, es würde sowieso nichts ändern. Meinen Sie etwa, unter den Kandidaten sei auch nur einer, der sich für unsere Bedürfnisse einsetzen würde?
Abdelkader hat vor sich auf dem Bürgersteig eine Decke ausgebreitet, darauf liegen einige Hosen und T-Shirts, die er verkauft. Dadurch verdient er mit viel Glück 300 Dinar am Tag, umgerechnet etwa 4,25 Euro, doch meistens hat er am Abend noch weniger in der Tasche. Das Geld reicht kaum, um für seine Familie – Abdelkader hat zwei Kinder – Essen und Trinken zu kaufen. Dass er trotzdem mehr schlecht als recht über die Runden kommt, verdankt er der Hilfe seines Vaters, der als Bauarbeiter in Frankreich gearbeitet hat und von dort eine Rente bezieht. Doch an eine größere Wohnung ist nicht zu denken, also drängt sich die achtköpfige Familie in drei Zimmern.
Ich habe bisher nur ein Mal gewählt, nämlich die FIS. Sie hat damals versprochen, die Probleme unseres Landes zu lösen und unsere Lebensbedingungen zu verbessern. Aber jetzt vertraue ich niemandem mehr.
Seit das Militär im Januar 1992 die ersten Parlamentswahlen unterbrach, haben in Algerien etliche Wahlen stattgefunden – alle wurden von der Opposition und von Beobachtern als manipuliert kritisiert. Auch von der wirtschaftlichen Entwicklung sind die Menschen enttäuscht.
Das ehemals sozialistische Algerien ist auf dem schweren Weg zur Marktwirtschaft. Es leidet unter den sozialen Folgen der Sparauflagen des Internationalen Währungsfonds. Unrentable Staatsbetriebe wurden geschlossen, etwa 400.000 Arbeitsplätze gingen verloren. Zwar hat die Regierung nach eigenen Angaben 150.000 neue Stellen geschaffen, doch die Arbeitslosenquote ist weiter gestiegen und liegt jetzt bei 40 Prozent. Unter den Jugendlichen ist die Lage noch verzweifelter: In den Ballungszentren des Nordens sind bereits 60 Prozent von ihnen ohne Job. Nach Angaben der Regierung lebt inzwischen jeder Dritte unterhalb der Armutsgrenze. Dabei ist Algerien ein reiches Land: Der Export von Erdöl und Erdgas bring jährlich rund 25 Milliarden Euro ein.
Die Bevölkerung weiß von diesem Geldsegen, ohne etwas davon zu spüren. Viele Algerier haben deshalb jedes Vertauen in die politische Klasse und die Parteien verloren, die sich am kommenden Donnerstag zur Wahl stellen. So wie Hamid, einer der Straßenhändler in Belcourt:
Sie haben schon viel versprochen, zum Beispiel jede Menge Arbeitsplätze. Manche von denen haben es schon bis in ein Ministerium geschafft. Sie hatten Arbeit für die Jugendlichen versprochen – aber bekommen haben wir nichts.
Hamid handelt mit Werkzeug und Wäsche, das bringt ihm am Tag rund drei Euro – das sind 50 Cent täglich für jedes Familienmitglied. Auch Hamid hat vor zehn Jahren für die FIS gestimmt, und er würde sie wieder wählen, wenn die Partei nicht noch immer verboten wäre. Denn die radikalen Islamisten sind die einzigen, die er für ehrlich und aufrichtig hält:
Ja, weil sie an Gott glauben. Das heißt, sie haben Angst vor Gott, vor ihm müssen sie Rechenschaft ablegen, deshalb werden sie nichts Schlechtes tun.
In den legalen islamistischen Parteien sieht Hamid keine oppositionelle Kraft. Die größte von ihnen, die MSP, ist ohnehin an der Regierungskoalition beteiligt, derzeit stellt sie zwei Minister. Doch solche Details interessieren in Algerien kaum noch jemanden. Nicht nur in Belcourt findet der Wahlkampf ohne Publikum statt: Überall reißen Passanten die wenigen Wahlplakate fast umgehend wieder ab. Alle Parteien mussten etliche Wahlveranstaltungen mangels Publikum absagen. Das gilt auch für die legalen islamistischen Parteien, selbst in den früheren Hochburgen der FIS.
Das allgemeine Desinteresse ist frappierend: Noch vor wenigen Jahren gingen Zehntausende auf die Straße, um gegen einen islamischen Gottesstaat und für die Demokratie zu demonstrieren – obwohl solche Protestmärsche ein tödliches Risiko waren. Jetzt kennt mancher der ehemaligen Demonstranten nicht einmal den genauen Wahltermin. Hinda, eine Lehrerin, die es ebenfalls beim Vornamen belassen will, weiß noch nicht, ob sie überhaupt wählen geht:
Es ist genau dieselbe Situation wie 1991: Man wusste nicht, wen man überhaupt wählen soll. Sehr wenige Leute aus meinem Umfeld werden wählen – genau genommen kenne ich niemanden. Das kann durchaus dramatisch sein, denn es besteht das Risiko, dass die islamistischen Parteien deshalb durchkommen – ja, genau das wird wohl passieren. Geraten wir also wieder in dieselbe Falle wie 1991? Wofür dann diese elf oder zwölf Jahre des Terrors, des Leidens – um sich dann in genau derselben Situation wiederzufinden? Was für eine Verschwendung!
Doch nur gelegentlich macht sich die Lehrerin darüber überhaupt Gedanken – ihre erste Sorge gilt derzeit dem Mangel an Wasser, und das gilt für den Großteil der Bevölkerung. Die Stauseen sind nahezu leer, die Algerier bekommen deshalb nur alle paar Tage für einige Stunden Wasser.
Ich empfinde das als eine Erniedrigung. Man kann jede Menge Schwierigkeiten im alltäglichen Leben haben – alles lässt sich irgendwie aushalten, nur nicht ein Problem mit dem Wasser. Aber das Schlimmste ist noch nicht einmal, dass wir kein Wasser haben, oder dass wir nur alle drei Tage welches kriegen, das ist kein Problem – wenn wir es nur zu normalen Zeiten kriegen würden! Nicht mitten in der Nacht, um drei Uhr, oder um zwei Uhr, oder morgens um halb fünf! Wir verstehen das Problem ja, es hat nicht geregnet, also gibt es kein Wasser – aber sie könnten uns doch zu normalen Zeiten etwas zuteilen! Statt dessen musst du mitten in der Nacht aufstehen, um deine Behälter zu füllen, und wenn der Druck dann auch noch so schwach ist wie bei uns, wenn du deshalb Stunden lang brauchst, um noch nicht einmal besonders viel zu bekommen – dann fühlst du dich wirklich gedemütigt.
Auch in den Nachbarländern Marokko und Tunesien hat es nicht geregnet, doch nirgendwo stellt sich das Problem so dramatisch dar wie in Algerien. Stauseen und Zuflüsse wurden in den vergangenen Jahren nicht gewartet und sind deshalb verschlammt, erst jetzt werden Anlagen zur Entsalzung von Meerwasser und zusätzliche Brunnen gebaut. Viele Algerier fragen sich deshalb, ob die Regierung sie mit derart banalen und zugleich existentiellen Schwierigkeiten in Atem hält, damit ihnen keine Zeit bleibt für die politischen Fragen.
Solche Spekulationen zeigen, wie tief das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung erschüttert ist. Sie wird ohnehin seit Jahrzehnten nur "le pouvoir" genannt wird – "die Macht". "Le pouvoir" ist ein Geflecht aus Armee, Politik und Wirtschaft, das für die Bürger undurchschaubar bleibt.
Die Institutionen sind leere Hüllen, keine von ihnen erfüllt ihre Aufgabe. Zum Beispiel das Parlament: Erstens hat es laut Verfassung nicht viel Macht. Zweitens werden die Parteien, die im Parlament vertreten sind, bis auf zwei oder drei Ausnahmen von der Regierung selbst kontrolliert. Und schließlich die Abgeordneten: Die meisten Wahlen werden manipuliert. Die Parlamentarier haben also nicht nur wenig Macht, sie spielen außerdem ein falsches Spiel, weil sie ganz genau wissen, dass sie gewählt werden können, ohne gewählt zu sein – das heißt, dass die Wahlen gefälscht sind.
Doch selbst die Regierung könne nicht frei über die Grundlagen ihrer Politik und ihre Gesetze entscheiden, meint der Anthropologe Mahfoud Bennoune:
Niemand kann Mitglied der Regierung werden, und vor allem kann er nicht lange in der Regierung bleiben, wenn die wirklichen Entscheidungsträger das nicht wollen. Sie sind unsichtbar, sie haben nach der Verfassung keinerlei Vorrecht, aber weil sie die Verfassungsorgane kontrollieren, bilden sie eine Art Schattenkabinett. Sie treffen zumindest alle strategisch wichtigen Entscheidungen in Algerien. Das heißt, wir haben zwar ein Parlament und einen Senat, wir haben alle Institutionen und Regeln und Gesetze, aber diese Regeln werden in der Realität nicht angewendet, die Normen werden verletzt. Das heißt, wir leben in einem Dschungel, es herrscht das Gesetz des Stärkeren.
Die Personen an den Schaltstellen der Macht sind bis heute dieselben wie zu sozialistischen Zeiten – noch immer hält das Militär die Fäden in der Hand. Mahfoud Bennoune beschreibt die Spielregeln der algerischen Demokratie: Der Zorn über die "hogra", den Missbrauch der Macht und die Arroganz der Mächtigen, treibt die algerische Bevölkerung seit rund einem Jahr und in allen Teilen des Landes immer wieder auf die Straße. Der Begriff "hogra" hat eine religiöse Dimension, er benennt ein Sakrileg. Den Anfang in einer Kette von Revolten machte vor einem Jahr die Kabylei.
Der Aufruhr entzündete sich am Tod eines Jugendlichen: der 19jährige Massinissa Guermouh starb im April vergangenen Jahres in einem Posten der paramilitärischen Gendarmerie, und zwar offenbar an den Folgen seiner Misshandlung während eines Verhörs. Danach begannen die Proteste gegen die Übergriffe der Staatsmacht. Immer wieder schoss die Gendarmerie mit scharfer Munition auf die Demonstranten – mehr als 80 von ihnen wurden getötet. Bürger außerhalb der Kabylei schlossen sich den Aufständen an, und als eine Million Menschen im Juni vergangenen Jahres nach Algier marschierten, stand das Land kurz vor dem Bürgerkrieg.
Wir wollen, dass die Unterdrückung durch den Staat aufhört, dass die Diktatur zu Ende geht und dieses Land endlich eine wirkliche Demokratie wird. Wir verlangen, dass die Meinungsfreiheit sofort anerkannt wird, die Demonstrationsfreiheit, die Freiheit, in diesem Land zu sagen, was man will, und wie man es will - wir haben schließlich kein anderes!
Die Regierung reagierte inzwischen auf die anhaltenden Proteste und erkannte die Berbersprache Tamazight neben dem Arabischen als zweite Landessprache an – das war eine der Forderungen gewesen. Dennoch ist die Region nicht zur Ruhe gekommen, der Zorn über die "Hogra" bekam neue Nahrung: Kein Polizist und kein Gendarm wurde bisher für den Mord an über 80 Demonstranten zur Verantwortung gezogen.
Die algerischen Parlamentswahlen finden in einer Zeit extremer politischer Spannung statt. Die Berberpartei FFS, die "Front der sozialistischen Kräfte", lehnt sie deshalb ab, sagt Ahmed Djeddai:
Seit einem Jahr brechen immer wieder Aufstände aus. Im Kern geht es bei diesen Protesten um die Bürgerrechte, die wirtschaftlichen und sozialen Rechte, und natürlich die individuellen und kollektiven Freiheitsrechte. Seit einem Jahr verschärft sich die Situation also zunehmend, denn "le pouvoir" ist auf diese Forderungen politisch nicht eingegangen. Und jetzt führt uns die Regierung in eine Wahl, die die Probleme im Kern nicht lösen kann – umso mehr als wir wissen, dass das Ergebnis wertlos ist. Warum? Weil die Wahlfälschung jetzt schon offensichtlich ist.
Die beiden Berberparteien FFS und RCD verweigern die Beteiligung. Die Bevölkerung versucht, die Wahlen in der Kabylei aktiv zu verhindern und setzt die Kandidaten anderer Parteien unter Druck. Etliche haben bereits aufgegeben. Während des Wahlkampfes hat die Zahl der terroristischen Attentate landesweit wieder zu genommen, selbst in Algier und anderen größeren Städten detonierten Bomben, Polizisten und Militärs wurden gezielt ermordet. Seit Wochen sind außerdem die Gefängnisinsassen in Aufruhr, sie zünden Matratzen an, um gegen die unmenschlichen Haftbedingungen zu protestieren. Die bisherige Bilanz: 46 Tote, 50 Verletzte. In einem solchen Klima Wahlen durchzuführen, hält Ahmed Djeddai von der FFS für geradezu gefährlich:
Wenn die Regierung darauf besteht, diese Wahl durchzuziehen, dann wird das zu einem weiteren Bruch in der Gesellschaft führen. Denn es bedeutet, das Risiko eines vorprogrammierten Chaos in Kauf zu nehmen. Wir sind eine pazifistische Partei, wir sind für friedliche Aktionen, aber wenn alle anderen Wege verschlossen sind, seine Meinung zu äußern, dann gibt es nur eine Art, sich Gehör zu verschaffen, und das ist die Gewalt. Das Risiko, dass die Gewalt weitergeht, ist also groß, und es besteht auch die Gefahr, dass die Verwerfungen in der Gesellschaft weiter zunehmen. Das ist es, wovor wir Angst haben.
Andere Beobachter befürchten vor allem, dass die islamistischen Parteien von dem weit verbreiteten Unmut und der absehbar niedrigen Wahlbeteiligung profitieren. Wie immer diese Wahl ausgeht – sicher ist: Nach bereits 200.000 Toten ist Algerien in einer ähnlichen Situation, wie bei den Parlamentswahlen vor zehn Jahren. Eine verzweifelte soziale Lage und die allgemeine Empörung über die Korruption der Regierung führten damals zu einer Eskalation der Gewalt. Vermutlich ist die Resignation der Bevölkerung derzeit so groß, dass es zunächst zu keinem Flächenbrand kommt. Doch der Sprengstoff ist da – bislang verpufft er in zahlreichen Revolten.