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Trügerische Erinnerung

Psychologie. - Erinnerungen können trügerisch sein. Wie unzuverlässig das Gedächtnis ist, haben deutsche Forscher jetzt erprobt. Ihre Versuchsteilnehmer konnten häufig aus der Erinnerung nicht sagen, ob sie eine alltägliche Handlung nur beobachtet oder tatsächlich auch durchgeführt hatten.

Von Julia Beißwenger | 10.03.2011
    Man schließe die Augen und stelle sich intensiv vor, eine Flasche zu schütteln. Diese Aufgabe bekamen Probanden des Forscherteams um Gerald Echterhoff von der Jacobs University Bremen. Zuvor hatten die Versuchspersonen verschiedene Handlungen selber ausgeführt, zum Beispiel einen Bleistift angespitzt oder ein Blatt Papier zerrissen. Eine Flasche jedoch hatte keiner geschüttelt. Zwei Wochen später waren dennoch viele überzeugt, genau das getan zu haben. Die falsche Erinnerung entstand allein aufgrund der Imagination, sagen Psychologen.

    "Schon von früher Kindheit an übt man zu simulieren und zu konstruieren. Das ist das, was Kinder tun, wenn sie spielen, wenn sie so tun, als ob. Die Konstruktivität unseres Geistes ermöglicht uns wahrnehmungsnahe Vorstellungen. Wenn wir das machen, dann wird es für uns schwierig, das wirklich Ausgeführte von dem bloß Vorgestellten zu unterscheiden, und wir verwechseln die Quellen aufgrund der hohen Überlappung der Merkmale."

    Die Wissenschaftler wollten diesen bekannten Effekt genauer untersuchen. Gibt es zum Beispiel Menschen, die glauben, sie hätten eine Flasche geschüttelt, weil sie die Aussage "Flasche schütteln" zuvor gelesen haben? Nein, ergaben die Experimente. Doch fanden die Forscher einen anderen Effekt, der sie überraschte. Sie zeigten einer Gruppe von Probanden ein Video, auf dem ein Mann oder eine Frau zum Beispiel ein Feuerzeug betätigt oder einen Bleistift anspitzt. Auch die Zuschauer des Videos hatten zuvor selber andere einfache Handlungen im Labor durchgeführt. Echterhoff:

    "Und zwei Wochen später wurden die Versuchspersonen wieder in unser Labor gebeten und sollten dort entscheiden, ob sie bestimmte Handlungen in einer ersten Phase wirklich ausgeführt hatten oder nicht. Und es kam zu einem sehr robusten, signifikanten Anteil von Falscherinnerung nach der bloßen Beobachtung von Ereignissen. Das heißt, so eine Handlung, die man ursprünglich gar nicht selber durchgeführt hatte, die man später bei einer anderen Person beobachtet hat, wurde fälschlicherweise als selbst ausgeführt erinnert."

    Im Durchschnitt glaubten die Probanden bei jeder vierten bis fünften Handlung, die sie auf dem Video gesehen hatten, diese selber durchgeführt zu haben. Entstanden die falschen Erinnerungen, weil sich die Leute zu wenig konzentrierten? Die Wissenschaftler hielten das für möglich, denn manchmal kommen Erinnerungsfehler zustande, indem Menschen intuitiv und vorschnell antworten, so Gerald Echterhoff. Um möglichst große Aufmerksamkeit zu erreichen, führten die Psychologen das Experiment unter veränderten Bedingungen noch einmal durch.

    "Wir haben also die Versuchspersonen in einer Bedingung gewarnt. Also ihnen explizit kurz vor dem abschließenden Gedächtnistest mitgeteilt, dass es eventuell zu einer Verwechslung kommen kann von bloß beobachteten Handlungen und selbst ausgeführten Handlungen. Der Effekt blieb bestehen. Das ist ein Hinweis darauf, dass das nicht durch bewusste Kontrolle verhinderbar ist, dass es so ein Effekt ist, der außerhalb unserer bewussten Einflussnahme liegt."

    Die Ergebnisse der deutschen Wissenschaftler stießen auf großes Interesse in der Fachwelt, erzählt William Hirst von The New School for Social Research in New York.

    "Ich denke, es ist eine wirklich wichtige Studie, die bisher noch nicht von anderen Wissenschaftlern gemacht wurde. Die Studie hat zwei Vorzüge. Erstens erweitert sie unser Wissen darüber, wann falsche Erinnerungen entstehen können. Zweitens werden zur Erklärung Spiegelneuronen genannt. Wir glauben, dass Spiegelneuronen feuern, wenn man Handlungen anderer Menschen beobachtet."

    Spiegelneuron sind Nervenzellen im Gehirn, die beim Beobachten eines Vorgangs Reize auslösen, als führe man die Handlung selber durch. Bei Primaten konnten die Spiegelneuronen zuerst nachgewiesen werden. Inzwischen weisen verschiedene Studien darauf hin, dass sie auch beim Menschen aktiv sind, so Gerald Echterhoff. Im Alltag könnten Spiegelneuronen wichtig sein. Es ist zum Beispiel bekannt, dass Kinder manche Bewegungen durch bloße Beobachtung nachahmen können. Das Hirn simuliert offenbar die betrachtete Handlung, als würde sie selber durchgeführt. Dadurch kann es offenbar bei der Erinnerung zu Verwechslungen kommen. Wie oft im Alltag halten Menschen beobachtete Handlungen für die eigenen, ohne es zu merken? Um dies beantworten zu können, sind weitere Experimente notwendig. Echterhoff:

    "Wir sind sehr daran interessiert, die Realitätsbedingungen weiter auszuloten. Kann der Effekt zum Beispiel schon am selben Tag auftreten? Kann er bei der bloß beiläufigen Beobachtung von Handlungen in einem Video - nehmen wir an in einer Wartelounge im Flughafen oder Bahnhof, auftauchen? Das sind alles Fragen, die sich jetzt natürlich stellen. Wir, und auch die scientific community, sind sehr offen dafür, dass man die Rahmenbedingungen dieses Effektes weiter austestet."