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Trutzhain in Hessen
Spiegel deutscher Kriegs- und Nachkriegsgeschichte

Trutzhain ist eine der jüngsten Gemeinden in Hessen. In kaum einem anderen Ort spiegelt sich die deutsche Geschichte seit 1939 so klar wider. Erst Kriegsgefangenenlager, später boten die Baracken Heimatvertriebenen und nach Palästina durchreisenden Juden Unterkunft - und auch ein späterer französischer Präsident war hier.

Von Susanne von Schenck | 27.09.2015
    Blick in die Siedlung von Trutzhain im nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis. Den einstöckigen Häusern sieht man noch immer ihren Ursprung als Kriegsgefangenen-Baracken an. Denn was heute das Dorf Trutzhain ist, war im Zweiten Weltkrieg das Kriegsgefangenenlager "Stalag IXa".
    Blick in die Siedlung von Trutzhain im nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis. Den einstöckigen Häusern sieht man noch immer ihren Ursprung als Kriegsgefangenen-Baracken an. Denn was heute das Dorf Trutzhain ist, war im Zweiten Weltkrieg das Kriegsgefangenenla (picture alliance / dpa / Zucchi Uwe)
    Wer nach Trutzhain kommt, spürt gleich: Hier ist alles anders. Zum einen von außen: Eingeschossige Baracken prägen den Ort, der symmetrisch angeordnet ist. Wie mit dem Lineal gezogen sind die Straßen, die scharf rechtwinklig von der Hauptstraße abgehen: die Warthe-Weichsel, die Posener- oder Danziger Straße, der Egerländer Weg.
    "Ich komme selber von einem kleinen Dorf, weiß, dass diese lange Lagerstraße, die heute noch existiert, diese gradlinige Führung, einfach nicht normal ist für einen Ort. Und dass bereits durch das Optische deutlich wird, dass hier eine besondere Geschichte dahinter ist."
    So der Marburger Geschichtsstudent Arne Jost, der immer wieder in Trutzhain forscht. Die Geschichte beginnt 1939 auf einer ehemaligen Jungviehweide - als Kriegsgefangenlager STALAG IXA. Bald werden Baracken errichtet, in denen bis zu 11.000 Kriegsgefangene zeitweilig ihr Dasein fristen. Das STALAG IX A war eins von 80 Stammlagern, die es damals im Deutschen Reich gab. Trutzhain ist das einzige, das komplett erhalten ist. Deshalb steht der ganze Ort seit 1985 unter Denkmalschutz. Heute hat er 750 Einwohner und die Baracken sind immer noch bewohnt.
    "Ja, die sind Klasse. Man hat halt Riesenräumlichkeiten."
    Sagt Udo van der Kolk, der heute in der Hauptstraße eine Weberei betreibt, zum Teil in einer ehemaligen Baracke.
    "Hunderte von Quadratmetern, die man frei gestalten kann. Da ist bestimmt die eine oder andere Baracke echt schnuckelig ausgebaut, und wenn die Leute pfiffig sind, kann man da schon echt was draus machen."
    Die Vorgärten der Baracken sind gepflegt hier und da weht eine Deutschlandflagge. Jenseits der ehemaligen Lagerstraßen sind in Trutzhain die typisch deutschen Einfamilienhäuser entstanden. Die Atmosphäre ist beschaulich. Ein paar Jungen balancieren auf ihren Skateboards, ein bärtiger Mann führt einen großen Schäferhund an der Leine spazieren.
    Gegenüber der freiwilligen Feuerwehr liegt die "Bauernstube", die einzige Gaststätte des Ortes. Aber weder in dem verwahrlost wirkenden Gebäude noch in dem verwilderten Biergarten wird noch serviert. Auch die Bäckerei Schönwälder nebenan ist geschlossen: Kuchen, Kaffee und Erfrischungen gibt es lediglich auf dem Schaufensterschild. Nur das Museum im Seilerweg hat geöffnet, eingerichtet in einer ehemaligen Wachbaracke. Karin Brandes leitet es:
    "Hier wird exemplarisch an das Schicksal der Kriegsgefangenen unter dem NS-Regime erinnert, an die Nichteinhaltung in vielen Punkten der Genfer Konvention, an das Leiden und Sterben insbesondere der sowjetischen Kriegsgefangenen und vor allem auch an den Missbrauch zur Zwangsarbeit."
    Francois Mitterand war hier als Kriegsgefangener
    Dagegen wehrten sich viele Kriegsgefangene, einige versuchten, zu entkommen.
    "Der prominenteste Kriegsgefangene hier im Stalag Ziegenhain war Francois Mitterand, der 1940 hier ins Lager kam, dann aber schon sehr, sehr schnell in ein Arbeitskommando nach Schaala, Thüringen versetzt wurde. Von da aus startete er dann ebenso schnell seine erste Flucht, wurde wieder aufgegriffen, kam zurück nach Ziegenhain, von wo aus er einen weiteren Fluchtversuch unternommen hat, der dann letztendlich auch geglückt ist."
    Die Ausstellung in dem kleinen Museum setzt sich mit den verschiedenen Phasen der zwar kurzen, aber intensiven Geschichte Trutzhains auseinander. So auch mit den Folgen des Krieges, mit Flucht und Vertreibung.
    Hinter fast jeder Haustür in Trutzhain verbergen sich Geschichten von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen - aus Pommern, Ostpreußen, aus Schlesien oder dem Sudetenland.
    "Es war ein weiter Weg vom Treysaer Bahnhof nach Trutzhain. Dann habe ich Stacheldraht gesehen und die Baracken. Und dann hab ich gesagt: nie wieder. Nie wieder in eine Baracke. Und ein Lager. Von wegen Läuse, Flöhe und so weiter. Ja, und ich bin heute noch hier."
    Gerda Stock war elf Jahre alt, als sie im Januar 1945 mit ihrer Mutter, der jüngeren Schwester und dem gerade geborenen Bruder die schlesische Heimat verlassen musste – mit einem Pferdegespann. Harte, entbehrungsreiche Zeiten: Das Baby verhungerte unterwegs, der Vater war in Kriegsgefangenschaft.
    "Meine Mutter – das hat man sich ja gar nicht überlegt, was die Frauen damals alles mitgemacht hatten. Die war ja praktisch nach der Geburt, das könnte heute keine junge Frau machen, dann auf die Flucht gehen. Wenn ich das heute im Fernsehen sehe, was die Syrer oder diese Leute auf sich nehmen, das ist ungefähr das gleiche."
    1949 fand die Familie dank des Suchdienstes des Roten Kreuzes in Trutzhain wieder zusammen. Ein neues Leben begann – mit nichts als einem Barackendach über dem Kopf und viel Improvisation.
    Sehr viel später fand auch eine andere Familie durch Trutzhain wieder zusammen: die Nachfahren des Franzosen Antoine und seiner deutschen Geliebten.
    "Gar nichts, sie hat überhaupt nichts erzählt. Was ich weiß, weiß ich nur vom Hören und Sagen. Wir hatten eine Flüchtlingsfrau hier im Haus. Mit der hat sie sich unterhalten. Und als Kinder haben wir die Ohren gespitzt, und da habe ich einiges erfahren. Aber sie selbst hat nie drüber gesprochen."
    Familiengeschichten in Trutzhain
    Sie - das ist die Mutter von Christa Kister, geboren 1908, gestorben 1991. Eine Bauersfrau, deren Mann in der Sowjetunion fällt. Christa Kister, heute 70, lebt in Schorbach, nicht weit von Trutzhain entfernt. Und was ihre Mutter so hartnäckig verschwieg, war ihr Vater, ein französischer Kriegsgefangener. Der wird während des Krieges aus dem Trutzhainer Lager auf den Kister'schen Hof zum Arbeiten geschickt. Was strengstens verboten ist, passiert: Die beiden haben ein Verhältnis miteinander, ein folgenreiches. Die Bäuerin wird schwanger. Aber der Franzose kehrt vor der Geburt der Tochter im Juli 1945 nach Frankreich zurück und kommt nie zurück. Was bleibt: ein Foto und ein Name: Anton - Antoine.
    "Ich wollte irgendwo mehr wissen über Anton und Frankreich. Im Endeffekt sucht man ja auch seine Wurzeln oder irgendwas. Ich habe da zwar mehr an die Mutter gedacht, dass die den Vater findet, aber für mich war es auch der Opa."
    Fünf Jahre ist das her. Guido Kister, der Sohn von Christa, fragt im Trutzhainer Museum nach, erfährt dort den Nachnamen und das Geburtsdatum, Daten, die er zum Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes schickt.
    "Die haben das dann weitergeleitet nach Paris, und da hat es ungefähr ein knappes Jahr gedauert. Und dann kam die Antwort: Jawohl, der Antoine Bonnet ist in Linac, Südfrankreich, verstorben 1993 und liegt da beerdigt."
    Damit nimmt die Geschichte eine neue Wendung. Denn Antoine Bonnet hat auch in Frankreich eine Familie: einen Sohn und Tochter - Halbgeschwister von Christa Kister, von deren Existenz sie bisher nicht die leiseste Ahnung hatte. Die Familien treffen sich.
    "Das war schon ergreifend, gell, das kann man mit Worten nicht beschreiben. Eine ganz große Beziehung zum Bruder habe ich, mehr wie zur Schwester. Das haben beide gemerkt. Er sagt, das ist meine große Schwester, als wir das erste Mal da waren. Und sie hat gesagt, ich hätte ihn viel lieber. Sie hat das irgendwie gemerkt. Und wenn ich mit ihr spreche, denkt er, ich hätte sie lieber."
    Aktuelles Leben in Trutzhain
    Zurück in die Trutzhainer Gegenwart. Da rattern in einem zurückliegenden Gebäude in der Hauptstraße die Webstühle. Robert Egelkraut, der mit seiner Familie aus dem Egerland nach Trutzhain floh, gründete dort 1948 eine Weberei, die bald florierte. Damals wurde viel für Trachtenvereine hergestellt, erzählt Helmuth Egelkraut, der Sohn des Gründers.
    "Der Onkel von meiner Tante, der ist mit dem Fahrrad hier in der Schwalm rumgefahren und hat die Kopftücher verkauft. Und am Anfang gab es nichts anderes als Speck, Eier und Wurst. Dafür sind die Kopftücher verkauft worden."
    Im Lauf der Jahre hat sich wenig geändert in der Weberei Egelkraut. Nur der Besitzer hat inzwischen gewechselt und heißt jetzt Udo van der Kolk.
    "Der Betrieb hier ist eigentlich museal, findet sich nicht mehr im ganzen Land, vielleicht noch einer in Europa. Wenn man damit leibhaftig produzieren kann, macht das schon Spaß."
    Trutzhain ist voller Überraschungen. Wie in einem Brennglas spiegelt sich dort die deutsche Geschichte von 1939 bis in die Gegenwart. Flüchtlinge und Heimatvertrieben haben bis heute ihre Spuren hinterlassen. Und in die umliegenden Dörfer sind neue Flüchtlinge gekommen. Vielleicht eröffnet einer von ihnen in Trutzhain auch wieder ein Café.