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Tschaikowski und Strawinski
Doppelte Unterwerfung

Beim "Festival 'Aix" liefert Teodor Currentzis mit dem Lyoneser Opernorchester eine kammermusikalisch klar strukturierte Wiedergabe der luziden Strawinsky-Partitur. Die Frage nach Sinn und Verstand der Texte scheint er sich leider ebenso wenig gestellt zu haben wie andere Funktionsträger des Festivals. Respektvollen Beifall eines zwischendurch schläfrig gewordenen Publikums gibt es trotzdem.

Von Frieder Reininghaus | 06.07.2015
    Modest Tschaikowski, der Bruder des Komponisten, schrieb das Libretto zu "Iolanta". Sie, die blinde Tochter des altprovenzalischen Fürsten René, wird in einem idyllischen Garten inmitten von Felseneinöde von der Umwelt abgeschirmt, dort jedoch von der Liebe überrascht. Auf dem Umweg über das Petersburg des 19. Jahrhunderts wurde dem Festival in Aix-en-Provencealso ein lokalpatriotischer Aspekt zugespielt: Jener kunstsinnige Graf René, der auch den Titel eines Königs von Jerusalem trug, ließ 1457 sein "Buch vom liebentbrannten Herzen" drucken und seinen Altersruhesitz Aix durch prächtige Bauten aufrüsten. René war auch Sonntagsmaler und ein stark verspäteter Troubadour – also eine ideale Projektionsfigur auch "romantischer" Sehnsüchte. Mit einem aparten Bläsersatz deuten die sich zunächst an.
    Die Verwicklungen der mit Musik überwölbten Romanze bringen Iolanta zuerst zur Erkenntnis ihres Handicaps, dann zur Mobilisierung von Selbstheilungskräften. Die werden von Ebn-Chaki initiiert, dem berühmtesten maurischen Arzt der Zeit, den Vater René bemüht. Die Prinzessin wird des Mangels an Sehkraft gewahr, indem der zufällig des Wegs kommende Graf Vaudémont sich in sie verliebt, mit ihr zu plaudern beginnt (was freilich bei Todesstrafe verboten ist!) und um ihre Hand anhält. Da sich der Burgunder-Herzog, den sie ursprünglich heiraten sollte, ohnedies stark zu einer anderen hingezogen fühlt, steht dem Glück der durch Liebe sehend Gewordenen nichts mehr im Weg.
    Peter Sellars präsentierte die naiv ritterromantische Handlung – wie anschließend die stark stilisierte Kunde vom Schicksal der Unterweltsgöttin Persephone – als Stehtheater zwischen vier ehernen Türrahmen, die von erlesenen Steinen beschwert sind. Diese erinnern entfernt auch an Tierköpfe. Die Blinde erblüht im blauen Abendkleid und man erfährt in den Bahnen eines aus Wagner-, Halévy- und Verdi-Partituren sowie mancherlei Oratorien angefütterten Tonsatzes, dass es zwei Reiche gäbe – das der Körper und jenes der Seelen. Weshalb sich auf dem bunt wechselnden Hintergrund Schattenrisse erheben. Chor und Solisten preisen am länglichen Ende nicht die Kunst des muslimischen Arztes, sondern die Gnade der Trinität. Peter Sellars zeigt diese Groteske als modernes Sekten-Ritual mit der anmaßenden "Demut" eines Eingeweihten: Große Kontemplations-Gesten für das von den Tschaikowskys aufbereitete Mirakel in grellbuntem Licht – ein optisch überzuckertes Dessert des Festspiel-Menüs.
    Dem fehlte dann nur noch der Käse. Eine Portion reife Persephone wurde serviert – noch ein Frauenschicksal. Zugleich ein Blick auf die naturreligiösen Anfänge der griechischen Mythologie aus dem Geist der 1930er Jahre-Moderne: Schräg-schöner Neoklassizismus.
    Der Tenor Paul Groves gibt als Eumolpe sachdienliche Hinweise zur Entstehung und Nutzung der Jahreszeiten, Dominique Blanc im Iolante-Blau zum Ungemach der Unterweltsgöttin. Ein buntes Tänzerquartett lockert auf – mit rituellen Gesten und Schreittänzen asiatischer Provenienz. Teodor Currentzis liefert mit dem Lyoneser Opernorchester eine kammermusikalisch klar strukturierte Wiedergabe der luziden Strawinsky-Partitur. Die Frage nach Sinn und Verstand der doppelten Unterwerfung unter atavistische Religiosität scheint er sich leiderso wenig gestellt zu haben wie andere Funktionsträger beim provençalischen Sommermusiktheaterentertainment. Respektvoller Beifall eines zwischendurch schläfrig gewordenen Publikums.