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Tschechien
Der Weg in die Schuldenfalle

Im Norden Tschechiens steckt fast ein Fünftel der Bevölkerung in der Zwangsvollstreckung. In der Stadt Usti nicht weit von Dresden ist sichtbar, wie Armut und Verschuldung zusammenhängen. Wichtige Gründe für Überschuldung sind immer noch mangelnde Bildung - und Naivität.

Von Kilian Kirchgeßner | 24.04.2020
Ein Pfandleihhaus in Tschechien - viele Bürger dort sind hoch verschuldet
Ein Pfandleihhaus in Tschechien - viele Bürger dort sind hoch verschuldet (Deutschlandradio/ Kilian Kirchgeßner)
Es ist Montagvormittag, auf dem Hauptplatz von Usti ist viel Betrieb. Aus den Bussen strömen die Menschen in die Einkaufszentren, die wenigen schattigen Bänke sind voll besetzt, eine Polizeistreife dreht ihre Runden. Usti, mit deutschem Namen Aussig, liegt auf halber Strecke zwischen Prag und Dresden: 90.000 Einwohner; Hauptstadt jenes tschechischen Bezirks mit den meisten Zwangsvollstreckungen – fast jeder fünfte Bewohner ist betroffen.
Dass es keine reiche Stadt ist, sieht man auf den paar hundert Metern vom Bahnhof zum Behördenhaus: Drei Pfandleiher haben dort ihre Geschäfte, einige Läden stehen leer, andere werben für Restposten.
"Vor allem Klienten mit niedriger Bildung"
Im Behördenhaus hat Iveta Grabnerova ihr Büro. Würde sie die Lamellenvorhänge öffnen, könnte sie hinausschauen auf den Marktplatz. Die Finanz-Fachfrau ist Schuldenberaterin bei der Organisation "Financi tisen", übersetzt: "Finanzielle Not". Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelt alle paar Minuten. Sie zuckt entschuldigend mit den Schultern und greift zum Hörer.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Tschechen in der Schuldenfalle.
Iveta Grabnerova macht sich einige Notizen, dann blickt sie auf: "Immer montags haben wir unsere Hotline geschaltet, da können die Leute kostenlos anrufen und sich für ein Treffen mit uns verabreden." Kostenlos helfen Grabnerova und ihr Kollege dabei, aus der Schuldenfalle zu kommen oder Privatinsolvenz zu beantragen.
"Es kommen vor allem Klienten mit niedriger Bildung und oft niedrigem Einkommen. Viele haben einen Job, bei dem sie höchstens ein Stückchen mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von rund 12.000 Kronen verdienen, umgerechnet also knapp 500 Euro im Monat. Und dann sind es viele Rentner."
Abgehängte Region im Norden Tschechiens
Iveta Grabnerova hat früher bei einer Bank gearbeitet; nach der Elternzeit ist sie jetzt auf die andere Seite gewechselt. Auf den beiden Besucherstühlen an ihrem Schreibtisch nehmen Leute Platz, deren Geschichten wie ein Querschnitt durch die Probleme der abgehängten Region im Norden Tschechiens wirken. Häufig sind es Familien, und wenn einer die Arbeit verliert oder die Eltern sich trennen, dann bricht ein ohnehin wackliges Finanzierungsgerüst zusammen.
"Oft sagen sie am Anfang des Gesprächs: Ich habe jede Menge Schulden und weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Sowas in die Richtung, das gibt es in allen Varianten. Viele sind einfach naiv: Sie haben die Vorstellung, sie nehmen einen Kredit auf - und irgendwie wird dann schon alles klappen. Oft denken sie nicht an die Zukunft, sie sehen das ganz im Hier und Jetzt: Jetzt habe ich Geld, und jetzt gebe ich es aus."
Jede Zwangsvollstreckung bringt weitere Kosten mit sich
Im Flur an der offenen Tür geht jetzt Iveta Grabnerovas Kollege vorbei. "Kommst Du auch zu uns?", fragt sie. "Komm, sag auch was!"
Als Jiri Hadas stellt er sich vor, er hat ein breites Lachen. "Wenn Sie historische Infos brauchen, fragen Sie mich ruhig – ich bin leider schon länger hier, fast schon zehn Jahre." Humor, das wird schnell klar, braucht man in diesem Job - und manchmal auch Galgenhumor.
"Eine frühere Kollegin hatte mal einen Klienten mit 50 verschiedenen Posten, die in der Zwangsvollstreckung waren. Das waren kleinere Kredite und dann jede Menge Strafen fürs Schwarzfahren und solche Sachen. Das Problem ist: Die einzelnen Posten werden jeweils einzeln verfolgt. Wenn einer ein paar Jahre lang ohne Fahrschein gefahren ist, dann kann es passieren, dass er allein dadurch 30 Zwangsvollstreckungs-Verfahren am Hals hat, und jedes einzelne Verfahren bringt weitere Kosten mit sich."
Schuldnerberater Jiri Hadas in seinem Büro im Behördenhaus von Usti im Norden Tschechiens
Schuldnerberater Jiri Hadas in seinem Büro im Behördenhaus von Usti (Deutschlandradio/Kilian Kirchgeßner)
Neueste Falle: Mikro-Kredite im Internet
Und es sei nicht nur die ältere Generation, die sich in den Fallstricken des für sie ungewohnten Kapitalismus verfangen habe, sagt Jiri Hadas dann – nein, bei den Jüngeren beobachte er genau die gleichen Schwierigkeiten:
"Es geht immer im Kreis. Ich würde sogar sagen, es kommen neue und neue Probleme auf, die es vor zehn Jahren noch nicht gegeben hat. Das Neueste waren Mikro-Kredite im Internet, da sind viele aus der jungen Generation darauf reingefallen – es reichen ja ein paar Klicks aus. Sie kriegen zum Beispiel 5.000 Kronen, also 200 Euro, und müssen im nächsten Monat später das Doppelte zurückzahlen. Aber wenn sie diese Summe jetzt nicht haben, dann haben sie auch ein paar Wochen später nichts zum Zurückzahlen."
Inzwischen sei das gesetzlich beschränkt, aber die nächste Masche kommt bestimmt, und dann kriegen sie es hier im Schuldner-Beratungszentrum schnell mit. Jiri Hadas geht wieder in sein eigenes Büro, die nächsten Anrufer warten schon in der Leitung.
Die Abwärtsspirale durchbrechen
Iveta Grabnerova wird demnächst viel unterwegs sein: Alle paar Wochen schlägt sie ihr Büro den größeren Städten rings um Usti auf – und dann hat sie manchmal 20 Beratungsgespräche an einem Tag, die örtlichen Sozial- und Arbeitsämter schicken ständig neue Kundschaft. Ab und zu, sagt Grabnerova, denke sie an ihre Arbeit der Bank zurück:
"Ich wusste, was es hier für Klienten gibt, ich wusste, worum es bei der Schuldenberatung geht. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es echt so schlimm ist – dass es so viele Zwangsvollstreckungen sind und um so hohe Summen geht. Das hat mich überrascht."
Ihr Anliegen jetzt: Sie möchte ihre Mandanten nicht nur durch die Privatinsolvenz bringen, sondern auch mithelfen, dass sie künftig ihr Geld besser einteilen können. Irgendwie, sagt sie, müsse sie sich doch durchbrechen lassen, diese Abwärtsspirale der Überschuldung, in die gerade in Tschechien so viele Menschen geraten.