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Tübinger Poetik-Dozentur
Siri Hustvedt - Erzählerin der eigenen Geschichte

Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt hat in diesem Jahr die Tübinger Poetik-Dozentur inne. In ihren Vorlesungen sprach sie über den Ursprung menschlichen Erzählens, den Zusammenhang zwischen Narrativität und psychischer Gesundheit und über die Angst des Westens vor der Weiblichkeit.

Von Christian Gampert | 16.11.2016
    Die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt posiert am 15. November 2011 in Barcelona.
    Die US-amerikanische Schrifstellerin Siri Hustvedt. (picture alliance / dpa / Alejandro Garcia)
    Am Anfang das obligatorische Statement: Trump sei furchtbar, Europäer und Amerikaner müssten nun zusammenstehen gegen "neofaschistische Bewegungen".
    Psychologische Grundlagen des Schreibens
    Siri Hustvedt kam dann aber schnell zum eigentlichen Thema. Vorweg: Einen wirklichen Einblick in ihre Schreibwerkstatt gab sie nicht; eher einen Kurs zu den psychologischen Grundlagen des Schreibens. "Wrong Number – for Narrativity" heißen ihre Vorlesungen, also: falsch verbunden – ein Plädoyer für Narrativität. Ausgangspunkt ihres Schreibens ist immer etwas Persönliches, so auch hier: ein Erlebnis in einem Pariser Hotelzimmer. Die unter Schlafstörungen leidende Autorin wird vom falsch eingestellten Wake-up-Call der Rezeption mitten in der Nacht geweckt. Automatisch geht sie unter die Dusche, zieht sich den Bademantel an - und stellt dann fest: es ist ein Uhr früh.
    "Ich kann mich natürlich sehen, wie eine andere Person mich sehen würde; ich kann mich aber auch in der ersten Person erleben oder als Erzähler meiner eigenen Geschichte. Oder auch als Buster-Keaton-ähnliche Figur in einer Stummfilmkomödie, die hier, im Hotelzimmer, in meiner Einbildung stattfindet"
    Aber wie geht das überhaupt: Aus dem Erleben für sich selber eine Geschichte oder gar eine Komödie machen? Hustvedt verwies auf Paul Ricoeur, der das schöpferische Erzählen als "dritte Zeit" sieht, neben der real laufenden Zeit und der großen, gleichgültigen Nicht-Zeit des Kosmos. Aber die Geschichte des menschlichen Erzählens: Wo beginnt sie?
    Angst vor dem Weiblichen in der westlichen Welt
    "Ich finde es faszinierend, dass die Tatsache, dass jedes menschliche Wesen sein Leben in einem Mutterbauch beginnt und im Geburtsakt herausgepresst wird, dass diese Tatsache im philosophischen Denken des Westens nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat – bei der Reflexion darüber, was eigentlich ein menschliches Wesen ist."
    Die Wahrheit aber sei: In der vollständigen Abhängigkeit des Fötus vom Körper der Mutter finde vor und nach der Geburt ein Dialog statt, der den Rhythmus für spätere Erzählungen vorgebe, die "Musik der Existenz", die "Metrik des Seins". Die in vielen Kulturen verehrte Plazenta sei auch eine Art Mutterkuchen der Literatur – und ihre Nicht-Achtung in der westlichen Welt sei die Angst vor dem Weiblichen.
    Körperliche Mutter-Kind-Beziehung - ein "Proto-Narrativ"
    Nun könnte man einwenden, dass in den allermeisten Fällen gleich nach der Geburt der Vater hinzutrete, der auch etwas beizutragen hat zur biografischen Erzählung des Kindes. Das ist aber Hustvedts Sache nicht: Für sie hat "die Wirklichkeit des Menschen eine umbilikal-plazentale Beschaffenheit", also eine "zum Nabel gehörende" Abhängigkeit; die körperliche Mutter-Kind-Beziehung sei ein "Proto-Narrativ", "Proto-Dialog", der in Sprache und eventuell in Literatur münde.
    In Deutschland ist Ähnliches schon in den 1970iger-Jahren von Alfred Lorenzer formuliert worden. Hustvedt führte amerikanische Gewährsleute an. Und sie widmete sich in einer zweiten Vorlesung dem "Paradoxon der Fiktion" und dem Verhältnis von Erinnerung und Einbildungskraft. Paradox sei es, dass der Leser reales Mitleid mit einer Figur wie David Copperfield empfinde, während er doch wisse, dass die Figur erfunden sei. Und die notorisch unzuverlässige Erinnerung weit zurückliegender Erlebnisse sei eine "imaginative" Wieder-Abschrift – und darin der Fiktion verwandt. Entscheidend aber sei, dass der Schriftsteller zum Souverän seiner eigenen Erzählung werde, während etwa Psychiatriepatienten die Herrschaft über ihre persönliche Lebenserzählung verlieren. Hustvedt, die in einer Klinik Schreibkurse für psychisch Kranke gibt, führte Patienten an, die die Handlungsmacht über ihr Selbst, ihren Körper, ihre Vergangenheit, ihre Narration verloren hätten. In der Literatur aber finde eine Sinnkonstruktion statt, die die Wirklichkeit nicht zu bieten habe.
    Man mag darüber streiten, ob dies eher eine Psychologie- oder eine Poetikvorlesung war. Literatur habe heilende Wirkung, so Hustvedts Botschaft. Sie selbst habe durch ihr Schreiben eine quälende Migräne unter Kontrolle gehalten. Immerhin.