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Türkei
Beten bringt Punkte

Das türkische Bildungsministerium hat einen Wettbewerb ausgerufen: "Los Kinder in die Moschee". Mitmachen dürfen nur Jungen, als Preise für eifrige Moscheebesucher locken Tablets und Skateboards. Liberale Eltern protestieren.

Von Kristina Karasu | 01.02.2019
    Ein Kind beim Freitagsgebet in der Baitul Futuh Moschee in Morden, London. Sie ist die größte Moschee der Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) außerhalb Pakistans.
    Ein Kind beim Freitagsgebet in einer Moschee (dpa / picture alliance / PA Chris Young)
    Die Männer der Gemeinde gehen in die Knie, beugen ihr Haupt, sprechen arabische Gebetsverse. Der 13-jährige Fehmi folgt ihnen eifrig, er kennt die Bewegungen gut. Doch nach einiger Zeit fällt es ihm schwer, sich zu konzentrieren – das Mittagsgebet dauert immerhin 20 Minuten. Derzeit kommen Fehmi und sein zehnjähriger Freund Mustafa alle paar Stunden in die Istanbuler Çemenzar Moschee. Sie hätten selbstständig entschieden, am Projekt "Los Kinder in die Moschee" teilzunehmen, sagt Fehmi:
    "Für Allahs Gnade versuchen wir jetzt kein Gebet zu verpassen. Unsere Religion ist der Islam und da gibt es einige Gebote. Das wichtigste sind die Gebetszeiten fünfmal am Tag. Deswegen haben wir uns beide entschieden zu gekommen. Der Wettbewerb ist ein extra Anreiz für uns. Meine Schule hat Religion zum Schwerpunkt, es ist eine Imam-Hatip-Schule. Meine Schulfreunde gehen auf jeden Fall in die Moschee, wenn es dort so besondere Aktivitäten gibt."
    Madchen sind mit 12 Jahren vernünftig, Jungs mit 15
    Der Wettbewerb "Los Kinder in die Moschee" findet in diesem Jahr zum ersten Mal in der ganzen Türkei statt. Teilnehmen können Kinder im Alter zwischen 6 und 13 Jahren. Für jedes in der Moschee absolvierte Gebet können die Kinder Punkte sammeln. Extra Punkte gibt es für jeden korrekt auf Arabisch vorgetragenen Koranvers. Wer am Ende der zweiwöchigen Ferien die meisten Punkte gesammelt hat, kann ein Tablet, Fahrrad oder Skateboard gewinnen.
    In der Çemenzar Moschee im bürgerlichen Stadtteil Göztepe haben sich nur zehn Kinder angemeldet. Die meisten von ihnen kennt der Gebetsrufer der Gemeinde Alper Yilmaz schon vom Korankurs in den Sommerferien, ihre Eltern sind praktizierende Muslime. Kinder für das Gebet zu begeistern sei heutzutage schwer – und der neue Wettbewerb dafür immerhin ein Anreiz, erklärt Yilmaz:
    "Die Preise sind eine Vorbereitung. Das wirkliche Ziel ist, die Kinder an die Moschee zu gewöhnen. In unserer Religion gelten Mädchen mit 12 und Jungen mit 15 als vernünftig und nicht mehr als Kind. Aber unser Prophet rät den Eltern, die Kinder ab neun Jahren an die Religion, an Moschee, Gebet und Fasten heranzuführen. Dafür ist das hier ein schönes Projekt, ich unterstütze es."
    Frauen sollen zu Hause beten
    Allerdings dürfen nur Jungen am Wettbewerb teilnehmen – für Mädchen ist er nicht vorgesehen. Dabei stehen Moscheen auch Frauen offen, doch orthodoxe Muslime sehen es lieber, wenn Frauen zuhause beten. Solch eine rückschrittliche Mentalität scheint auch hinter dem Gebetswettbewerb zu stecken. Veranstaltet wird er vom türkischen Bildungsministerium in Zusammenarbeit mit der "Server" Stiftung. Wer sie gegründet hat, darüber finden sich nur schwer Informationen. Dem Lehrer Kazım Yılancı von der Bildungsgewerkschaft Egitim Sen hingegen ist die Stiftung nicht unbekannt: hinter ihr stecke die streng muslimische Ismailağa Glaubensgemeinschaft. Sie und andere Orden würden Bücher mit ultrakonservativen Inhalten an Schulen verteilen und mit Wettbewerben um die Aufmerksamkeit der Kinder buhlen, so Lehrer Yılancı:
    "Das sind Projekte von verschiedenen religiösen Gemeinden und Stiftungen, sich bei Kindern bekannt zu machen und neue Quellen zu erschließen. Sie alle bestürmen derzeit das Bildungswesen. Duzende Stiftungen haben mit dem Bildungsministerium Protokolle unterzeichnet und sind nun befugt Lehrpläne zu erstellen und in die Schulen zu kommen. Und das quasi unbegrenzt."
    Der Staatspräsident wünscht eine religiöse Jugend
    Damit verfolgt die Regierung eine Mission: Präsident Recep Tayyip Erdoğan fordert seit Jahren, eine religiöse Jugend heranzuziehen – und setzt dabei auf die Unterstützung von zahlreichen, teils miteinander konkurrierenden muslimischen Glaubensgemeinschaften. Damit verletzt der Staat seinen säkularen Bildungsauftrag, kritisiert Lehrer Yılancı:
    "Während wir eine laizistische, wissenschaftliche, demokratische Bildung nach universellen Werten verteidigen, verfolgt die Staatsführung ganz offen eine stark religiös ausgerichtete Bildung. Das ist für unsere Gesellschaft eine sehr bedenkliche, gefährliche Entwicklung. So hat man den Biologieunterricht reduziert und die Evolutionstheorie gar aus dem Lehrplan gestrichen. Stattdessen wurde sehr viel religiös orientierter Unterricht hinzugefügt. Und religiöse Imam-Hatip-Gymnasien werden finanziell viel mehr gefördert als andere Gymnasien. Damit wird unser Bildungswesen verraten."
    Bei türkischen Eltern sind der religiöse Kurs des Bildungswesens im Allgemeinen und der Gebets-Wettbewerb im Besonderen sehr umstritten. Säkular eingestellte Elternverbände protestieren in sozialen Medien heftig gegen den Wettbewerb. Auch Semala, Mutter einer 8-jährigen Tochter, lehnt ihn rigoros ab:
    "Das Projekt widerspricht meinem Verständnis von Bildung. Ich will nicht, dass mein Kind eine starke religiöse Bildung erfährt, aber die staatlichen Schulen sind in diesem Punkt unzureichend. Dort versucht man, die Kinder in Richtung religiöse Schulen zu lenken. Deswegen habe ich mein Kind gleich auf einer Privatschule angemeldet."
    Den Islam positiv erleben
    Viele religiöse Eltern hingegen freuen sich über den Gebetswettbewerb. Sie wollen, dass ihre Kinder den Islam positiv erleben, und das schon im Grundschulalter. So etwa der regelmäßige Moscheegänger Şaban Zantürk. Er bedauert, dass die Gebetsstätten vor allem von alten Menschen besucht werden:
    "In der Türkei kommen nicht viele Kinder in die Moschee. Wohl weil man glaubt, dass sie Lärm machen oder das Gebet stören. Dabei nimmt man in ganz Europa seine Kinder mit in die Kirche, Synagoge oder woran man eben glaubt. Hier sollte das auch so sein. Wenn ich Muslim bin, dann soll mein Kind auch meine Religion lernen."
    Religiöse Bildung bleibt eines der großen Reizthemen in der Türkei. Während ein Teil der Eltern allem Religiösen im Bildungswesen misstraut, wollen die anderen eine solide religiöse Grundbildung für ihre Kinder, am besten von staatlicher Seite. Doch eine unabhängige, gar kritisch hinterfragende Islambildung ist sowohl an türkischen Schulen als auch in Moscheen Mangelware.