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Türkei
Beten mit Bangen

Ein türkischer Jude, der gemeinsam mit Muslimen für Erdogan demonstriert, ein Armenier, der sich gegen Verdächtigungen wehren muss, ein griechisch-orthodoxer Christ, der sich an das Pogrom von 1955 erinnert fühlt: Der Putschversuch vom 15. Juli hat das Zusammenleben der religiösen Minderheiten verändert. Stimmen aus einem gespaltenen Land.

Von Luise Sammann | 01.09.2016
    Polizisten und Erdogan-Anhänger scharen sich um einen Panzer vor der Bosporusbrücke in Istanbul.
    Polizisten und Erdogan-Anhänger scharen sich um einen Panzer vor der Bosporusbrücke in Istanbul. (picture-alliance / dpa / Str)
    Mois Gabai ist noch immer fassungslos über das, was vor sechs Wochen in seiner Heimat passiert ist. Ein Putschversuch – so etwas kannte der 30-Jährige bisher nur aus den Erzählungen seiner Eltern und Großeltern. Wie fast alle Türken, dankt Mois Gott jeden Tag dafür, dass die Putschisten gescheitert sind. Dass er Mitglied der jüdischen Minderheit am Bosporus ist, spielt dabei für ihn keine Rolle.
    "Ich bin von Anfang an zu den so genannten Demokratiewachen gegangen, zu denen Präsident Erdogan nach dem Putschversuch aufgerufen hat. Es geht hier um ein Thema, dass unsere ganze Gesellschaft betrifft. Also auch mich als türkischen Juden."
    Mois Augen leuchten, wenn er an die Abende denkt, an denen er in den letzten Wochen Fahnen schwenkend auf dem Taksim Platz stand. Statt sie weiter zu spalten, so glaubt er, habe der Putschversuch die Türken insgesamt geeint.
    "Bei diesen Treffen waren Leute aus allen Teilen der Gesellschaft. Es herrschte Feierstimmung. Muslime kamen um ihre Mützen mit uns Juden auszutauschen. Ich glaube wirklich, dass in dieser schwierigen Zeit eine große Chance für diese Gesellschaft stecken kann."
    Armenier unverhohlen beleidigt
    Was Mois Gabai beschreibt, ist genau das, was die türkische Regierung seit dem Putschversuch am 15. Juli bei jeder Gelegenheit zu demonstrieren versucht: Einheit und Geschlossenheit. Nicht zufällig läuft auch im türkischen Fernsehen dieser Tage ein Clip, der neben Politikern, Offizieren und Hausfrauen auch religiöse Führer jeder Art zeigt, die sich gegen den Putschversuch aussprechen. Als Erdogan persönlich am 7.August auf den größten Versammlungsplatz des Landes einlud, waren auch sie unter den fast zwei Millionen Anwesenden. Leider, findet Pakrat Estukyan von der armenischen Zeitung Agos im Nachhinein.
    "In Anwesenheit all dieser religiösen Führer wurden dort ganz unverhohlen die Armenier beleidigt! Einige der Redner bezichtigten sie als die Drahtzieher hinter dem Putschversuch. Einer sagte, der Prediger Fetullah Gülen selbst sei Armenier. Und all das in Anwesenheit unseres Patriarchen."
    Auch Pakrat Estukyan, eine der wichtigsten und auch kritischsten Stimmen der armenischen Gemeinde der Türkei, wollte auf keinen Fall einen Putsch. Dennoch ist er im Gegensatz zum Juden Mois Gabai alles andere als glücklich mit der Situation, die seitdem in seinem Heimatland herrscht. Nichts, so glaubt Estukyan in diesen Tagen deutlich zu sehen, hat sich in der zu 99 Prozent sunnitischen Türkei an den Vorurteilen gegen Andersgläubige geändert. In guten Zeiten mögen sie im besten Fall ignoriert werden. In schwierigen Zeiten werden sie sofort zu Verdächtigen.
    "Wenn du in der Türkei jemanden richtig beleidigen willst, dann sagst du, er sei ein Armenier. Das hat eine lange Tradition. Einst hieß es, PKK-Führer Öcalan sei Armenier. Für die Kemalisten war später der konservative Präsident Gül ein Armenier und für Regierungsanhänger waren es die Gezi-Demonstranten. Egal welcher Ideologie sie angehören, das Schimpfwort ‚Armenier‘ nutzen alle in der Türkei."
    Pogrom von Istanbul
    Tatsächlich schrieb ein Erdogan-naher Journalist schon wenige Tage nach dem Putschversuch, Gülens Vater sei Armenier, die Mutter Jüdin – und der Prediger selbst sei ranghohes Mitglied der katholischen Kirche. Es sind Zuschreibungen und Gedankengänge wie dieser, die auch dem 80-jährigen griechisch-orthodoxen Mihailis eher Angst als Hoffnung machen in diesen Tagen. Zu sehr erinnern sie ihn an die dunklen Kapitel, die die religiösen Minderheiten in der Türkei bereits erlebt haben.
    "Nehmen Sie das Beispiel, als die türkischen Griechen in den fünfziger Jahren plötzlich für das verantwortlich gemacht wurden, was auf Zypern geschah. Etwas, womit sie nichts zu tun hatten. In der Nacht vom 6. Auf den 7. September 1955 kam es deswegen plötzlich zu Ausschreitungen gegen sie, die Leute plünderten die Geschäfte von Christen."
    Was folgte, ging als "Pogrom von Istanbul" in die Geschichte ein und ist für die religiösen Minderheiten am Bosporus bis heute ein viel zitiertes Beispiel dafür, an welch seidenem Faden ihre Sicherheit in Krisenzeiten hängt. Auch in den Wochen, die seit dem Putschversuch am 15. Juli vergangen sind, hat es bereits Ausschreitungen gegeben. Zwei christliche Kirchen wurden angegriffen, genauso ein alevitisches Gebetshaus und ein armenisches Gymnasium in Istanbul. Möglich, dass der Artikel eines regierungstreuen Journalisten dazu beitrug, der geschrieben hatte, die Putschisten würden sich in Kirchen verstecken. Weder der Putschversuch selbst noch die Entlassungs- und Verhaftungswellen seitdem richteten sich direkt gegen die religiösen Minderheiten in der Türkei. Und dennoch blicken gerade sie besorgt auf den Weg, den ihr Land eingeschlagen hat.
    "In einer echten Demokratie versammeln sich die Leute nicht zu Hunderttausenden und rufen 'Wir wollen die Todesstrafe‘." sagt der armenische Journalist Pakrat. "Bei den so genannten Demokratiewochen der letzten Wochen war der wichtigste Slogan ‚Allahu Akbar‘. So etwas hat doch nichts mit echter Demokratie zu tun!"