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Türkei nach Anschlag
Trauer und gegenseitige Verdächtigungen

Nach dem Anschlag auf eine Friedensdemonstration in Ankara ist die Zahl der Todesopfer auf 97 gestiegen. Wer hinter der Tat steckt, ist weiter unklar: Die IS-Terrormiliz steht im Verdacht, die Regierung selbst in der Kritik. Die Stimmung in der Türkei ist aufgeheizt.

Von Thomas Bormann, Istanbul | 12.10.2015
    Frauen tragen einen Sarg bei einem Trauerzug in der Türkei
    Nach dem Anschlag von Ankara: Trauer und Wut bei der Beerdigung eines Opfers (picture alliance/dpa/Tolga Bozoglu)
    Die Sicherheitsbehörden in der Türkei verdächtigen offenbar die Terrormiliz "Islamischer Staat", den Anschlag in Ankara verübt zu haben. Das berichten mehrere türkische Medien. Die Zeitung Haberturk zitiert zwei Ermittler, die den beim Anschlag verwendeten Sprengstoff untersucht haben. Die Art des Sprengstoffs deute auf eine Täterschaft von IS-Terroristen hin, heißt es.
    Die halbstaatliche Nachrichten-Agentur Anadolu berichtet, bei Razzien seien am Wochenende insgesamt 43 IS-Verdächtige in der Türkei festgenommen worden, die meisten von ihnen in den Provinzen Konya und Urfa. Ob diese Festnahmen im Zusammenhang mit dem Anschlag von Ankara stehen, sei jedoch nicht sicher.
    PKK weist Verdacht zurück
    Einige Politiker der Regierungspartei AKP verdächtigen nach wie vor auch die kurdische PKK, den Anschlag verübt zu haben. Der Terrorismus-Experte Ersel Aydinli von der Bilkent-Universität in Ankara hält das jedoch für reine Spekulation: "Es ist eher wahrscheinlich, dass IS dahinter steckt oder Dschihadisten-Gruppen, die sich zum IS dazugehörig fühlen. Es kommt nicht unerwartet, leider. Gut möglich, dass die Tat von IS-Zellen in der Türkei verübt wurde."
    Die Sicherheitsbehörden oder die Regierung haben sich bislang nicht zum Stand der Ermittlungen geäußert. Der Chef der prokurdischen Partei HDP, Demirtas, macht die türkische Regierung und ihre Geheimdienste für den Anschlag mit verantwortlich. "Der Staat, dem kein Flügelschlag eines Vogels entgeht, soll nicht in der Lage gewesen sein, ein Massaker im Herzen der Hauptstadt zu verhindern?", fragt Demirtas.
    Für ihn ist klar: Präsident Erdogan und die Regierung müssen von den Anschlagsplänen gewusst haben. Demirtas wirft der Regierungspartei AKP vor, sie habe den Anschlag bewusst nicht verhindert, denn: "Sie haben genau diese eine Botschaft, nämlich: Wir können Euch töten und in Stücke reißen, und zwar bei hellstem Tageslicht mitten in Ankara. Das ist nicht nur ein Angriff auf uns. Sie wollen allen zeigen: Wer sich uns in den Weg stellt, den können wir töten und nichts kommt an die Öffentlichkeit."
    Demonstranten beschimpfen Erdogan als Mörder
    Denselben Vorwurf erhoben gestern Tausende Teilnehmer einer Trauerkundgebung für die Opfer des Anschlags in Ankara. Die Demonstranten verdächtigten den türkischen Präsidenten Erdogan, hinter dem Anschlag zu stecken und beschimpften ihn als Mörder.
    Die Stimmung in der Türkei ist aufgeheizt. Das macht vielen Menschen Angst. Ein älterer Mann in Ankara sagt: "Unsere Bürger und unser Land haben das nicht verdient. Diejenigen, die unseren Frieden und unsere Einheit zerstören wollen, dürfen ihr Ziel nicht erreichen. Wir müssen zusammenstehen in diesen Tagen, alle gemeinsam, Hand in Hand."