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Türkei will Atomkraft

Auch die Türkei hat dieses Jahr unter einem langen, extrem kalten Winter zu leiden. Gepaart mit dem wachsenden Energiehunger des Landes musste im Januar und Februar wegen der Kälte in Industriegebieten des Landes das Erdgas verknappt werden. Um Gas zu sparen, schalteten auch manche Kommunen tagsüber den Strom für private Haushalte mehrere Stunden ab. Nun glaubt die Regierung einen Ausweg aus dem Energiedilemma gefunden zu haben: die Kernkraft. Aus Istanbul berichtet Gunnar Köhne.

    Ein Infotisch der Plattform gegen Atomkraft in einer Istanbuler Fußgängerzone. Ein paar junge Leute drängen sich um eine ausgelegte Unterschriftenliste gegen die neuesten Atomkraftpläne der Regierung. Gleich daneben hängt ein Foto des im vergangenen Jahr an Krebs gestorbenen Popsängers Kazim Koyuncu. Weil Koyuncu vom Schwarzen Meer stammt, glauben viele Türken, dass der Sänger an den Spätfolgen der radioaktiven Verstrahlung von Tschernobyl gestorben ist. Für die Regierung sollte das eine Warnung sein, meint Özgür Gürbüz von der Anti-Atomkraft-Plattform:

    "Das wahre Ausmaß des Unfalls von Tschernobyl auf die Türkei hat die Regierung bis heute nicht veröffentlicht. Aber wir sehen, dass an der am stärksten betroffenen Schwarzmeerregion die Krebserkrankungen stark zugenommen haben. Angesichts dieser Entwicklung den Bau von Atomkraftwerken zu verkünden, halten wir für verantwortungslos. Und deshalb sind wir strikt dagegen."

    Doch die türkische Regierung lässt sich nicht beirren: Sie will bis zum Jahr 2015 drei Reaktorblöcke mit einer Gesamtleistung von 5000 Megawatt in Betrieb nehmen. Mit dem Bau des ersten Kraftwerks soll bereits im nächsten Jahr begonnen werden – die Entscheidung über den Standort soll demnächst fallen. Zur Auswahl steht wieder der kleine Mittelmeerort Akkuyu, dessen Bewohner mit ihrem Protest dazu beigetragen haben, dass die Atompläne im Jahr 2000 zunächst ad acta gelegt wurden.

    Der Atomeinstieg ist Ankaras Antwort auf die wachsenden Sorgen um die Zuverlässigkeit der Hauptenergielieferanten Russland und Iran. Die hohe Abhängigkeit des Landes von ausländischem Erdgas wird in der Türkei zunehmend als "Sicherheitsrisiko" eingestuft. Die Türkei deckt ihren Stromverbrauch zu 40 Prozent mit Gas.

    Der türkische Energieminister Hilmi Güler bestätigte, dass seine Regierung langfristig die Technologie für den geschlossenen nuklearen Brennstoffkreislauf anstrebe. In spätestens zehn Jahren wolle man selbst Uran anreichern. Die Uranvorkommen der Türkei werden auf rund 10.000 Tonnen geschätzt. Und Minister Güler hofft noch mehr zu finden:

    "Um weitere Uranvorkommen zu finden, werden wir ein Spezialflugzeug mieten, dass aus einer bestimmten Höhe das Uran aufspüren kann. Und ich bin sicher, dass wir auch die Entsorgung der nuklearen Abfälle meistern können. Da wird von den Gegnern viel Propaganda betrieben. Es gibt genügend Länder, die solche Abfälle gegen Bezahlung gerne aufnehmen."

    Der erste Reaktor soll 2012 in Betrieb gehen, ein deutsch-französisches Firmen Konsortium hat bereits Interesse an dem Auftrag signalisiert. Die türkischen Umweltschützer dagegen sind entsetzt: Statt in Kernkraft fordern sie Investitionen in alternative Energiequellen wie Sonne, Wasser und Wind. Özgür Gürbüz von der Anti-Atomkraft-Plattform:

    "Wir haben landesweit ein Windenergiepotential von 83 Tausend Megawatt. Genutzt werden heute aber nur lächerliche 19 Megawatt. Der gesamte Energiebedarf der Türkei von etwa 37 Tausend Megawatt könnte mit Windkraft also ohne weiteres gedeckt werden."

    Das Projekt Atomkraft und Urananreicherung wird in Ankara vom mächtigen Nationalen Sicherheitsrat betreut – dort haben die Generäle das Sagen. Die wollen verhindern, dass sich Fehler wiederholen wie in den 90er Jahren. Damals schloss die Türkei mit Moskau und Teheran Energieverträge ab, unter denen die Türkei heute leidet. Die Gaspreise wurden an den teuren Ölpreis gekoppelt, und die Regierung musste sich außerdem dem Iran gegenüber verpflichten, jährlich festgelegte Mengen abzunehmen. Die Verantwortlichen von damals, Ex-Regierungschef Mesut Yilmaz und dessen Energieminister, stehen mittlerweile wegen Hochverrats vor Gericht.