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Türkisch, sunnitisch, säkular

Wer den Gründungsvater der türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, beleidigt, landet im Gefängnis. Vor allem Türken aus dem muslimischen Lager stellen nun die Staatsideologie infrage. Ein Schritt, der viel Mut erfordert.

Von Luise Sammann |
    Montagmorgen, sieben Uhr, in Istanbuls Schulen beginnt eine neue Woche.
    Etwa hundert Erst- bis Achtklässler stehen stramm. Ihre braunen Schuluniformen sind frisch gebügelt, der Blick ruht auf der riesigen schwarzen Büste von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, die ihren Schulhof ziert.
    Jede türkische Schulwoche beginnt und endet mit der Nationalhymne. An den Tagen unter der Woche legen die Schüler morgens unter den strengen Augen der Atatürk-Statuen Bekenntnisse zur türkischen Republik ab: "Ich bin Türke", brüllen sie dann im Chor. "Ich bin aufrichtig, ich bin fleißig. Mein Gesetz gebietet mir die Kleinen zu beschützen, die Alten zu respektieren und mein Land und meine Nation mehr zu lieben als mein eigenes Leben." Die 33-jährige Geschichtslehrerin Ayse, nickt ehrfürchtig, während sie die Zeilen wiederholt.

    "Warum wir Atatürk bis heute nicht vergessen? Er hat sein ganzes Leben für die Türken geopfert. Deswegen hängen wir sein Bild in unsere Wohnungen. Deswegen lehren wir unsere Kinder, wenn sie zwei sind, Atatürk zu sagen. Wir bringen ihnen das bei, um klar zu machen, dass er unser Land gerettet hat. Das sind wir ihm schuldig!"

    Manche nennen es Atatürk-Kult, manche gar Ersatzreligion, was auch fast 75 Jahre nach dem Tod des Republikgründers in der Türkei zelebriert wird. Der Kemalismus ist offizielle Staatsideologie und bestimmt nicht nur die morgendlichen Zeremonien der Schulen, sondern sämtliche Bereiche des Staates. Nationalismus, Republikanismus und Säkularismus sind dabei die prägenden Säulen. Doch gerade von Säkularismus zu sprechen fällt schwer bei einem Staat, der ein Amt für religiöse Angelegenheiten unterhält und sunnitischen Religionsunterricht zur Pflicht macht - auch, wenn ein Schüler aus einer allevitischen Familie kommt.

    Säkularismus darf deswegen auch nicht mit Religionsferne verwechselt werden. Im Gegenteil: die Religion, genauer: Der sunnitische Islam hatte von Anfang an eine ganz bestimmte Aufgabe in der türkischen Republik, kritisiert Bilal Sambur, Theologiedozent aus dem westtürkischen Isparta:

    "Die Staatsideologie nutzt den Islam als ein Werkzeug, um eine homogene Gesellschaft zu formen. Nach dem Motto: Wir sind alle Türken, wir sind alle Sunniten. Aber die Identität, die so entsteht, ist nicht echt. Auch Nichttürken werden gezwungen, sich Türke zu nennen, auch Nichtsunniten wird der sunnitische Islam aufgedrängt."

    Bilal Sambur sitzt an einem Rednerpult in Istanbul und spricht seelenruhig Dinge aus, die einer kleinen Revolution gleichkommen: Er und die anderen 30 geladenen Redner des Symposiums "Wir stellen uns der Staatsideologie" hinterfragen den Kemalismus - ein Tabubruch! Dass die Kritik ausgerechnet von religiöser Seite kommt, ist kein Zufall. Der Kampf in der Türkei zwischen Kemalisten und Religiösen hat Tradition. Die religiös geprägte Soziologin Hilal Kaplan bestätigt das:

    "Der Kemalismus sieht die Religion als etwas Schlechtes, Primitives und Konservatives. Religion ist für sie etwas, was Menschen automatisch fanatisiert. Sie wollen, dass die Türken sagen: "Ich glaube, aber ich praktiziere meinen Glauben nicht wirklich."

    Es ist die alte Angst der türkischen Kemalisten: Wer den Religiösen zu viel Macht im Staat gibt, der riskiert das Erbe Atatürks und wacht in einem islamistischen Gottesstaat wieder auf ... Ministerpräsident Erdogan mit seiner islamisch-konservativen AK-Partei schürt solche Ängste noch, wenn er das Kopftuchverbot an Unis aufhebt oder gar ankündigt, er wolle eine religiöse Jugend heranziehen.

    Beteuerungen, wie die von Hilal Kaplan, halten viele Kemalisten deshalb für ein Täuschungsmanöver:

    "Wir Muslime fordern ja nicht, dass die seit Atatürk verbotenen Islamschulen wiedereröffnet werden, um dann alle zu zwingen dorthin zu gehen. Wir sagen: Öffnet diese Schulen, sodass die hingehen können, die wollen. Aber das ist eben das Problem: Ein Kemalist hat das Recht zu sagen: Religion ist rückständig. Also muss ich doch auch das Recht haben zu sagen, Religion ist nicht rückständig!"

    Doch, was zu sagen und zu denken erlaubt ist, unterliegt in der Türkei klaren Regeln: § 5816 des türkischen Strafgesetzbuches droht jedem, der Atatürk verunglimpft, mit bis zu drei Jahren Gefängnis. Selbst das Onlineportal Youtube war von 2007 an für drei Jahre gesperrt. Dort hatte, jemand ein Video hochgeladen, auf dem ein grell geschminkter Atatürk in Unterwäsche über den Bildschirm tanzte ... Die Redner des kürzlichen Istanbuler Symposiums bewegen sich deswegen auf dünnem Eis. Theologie-Dozent Bilal Sambur:

    "So, wie da der Prophet und andere Heilige in der Religionsgeschichte sind, so hat die hiesige Ideologie eine ganz ähnliche Art den perfekten, heiligen, makellosen Gründungsvater zu verehren, der von der Geschichte künstlich geformt wurde."

    Manchen Zuhörer im Saal lässt solche Kritik den Atem anhalten. Selbst sie in voller Länge wiederzugeben, scheint riskant in einem Land, in dem mehr als 100 Journalisten im Gefängnis sitzen. Noch vor fünf Jahren, bestätigt denn auch Symposiumsorganisator Cafer Solgun, hätte es niemand in der Türkei gewagt, öffentlich so zu sprechen. Dass es heute möglich ist, macht ihm Hoffnung:

    "Ich glaube, dass der Hauptgrund für unsere Demokratisierungsprobleme die Idee der offiziellen Ideologie ist, dass wir alle gleich sind. Solange wir uns dem nicht stellen, können wir zum Beispiel unsere Minderheitenprobleme nicht lösen. Kein Land braucht die Führung durch eine Staatsideologie. Was wir brauchen, ist ein Staat, der auf Grundrechten und Freiheit aufbaut."

    Dass die Türkei sich im Wandel befindet, wurde in den letzten Jahren immer wieder deutlich. Nicht zuletzt, als Ministerpräsident Erdogan Schritt für Schritt Armee und Judikative entmachtete. Ihrem Schutz hatte Atatürk seine säkulare Republik einst anvertraut. Die Kemalisten sehen solche Entwicklungen als Anfang vom Ende der modernen Türkei, als Beweise dafür, dass die Religiösen dabei sind, den Staat zu unterwandern. Grundschulerziehung und Strafgesetzbuch zum Trotz: Daran, dass die Staatsideologie des Kemalismus langsam bröckelt, müssen wohl auch sie sich gewöhnen.