Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Türkische Journalisten freigelassen
"Einziger Vorwurf: Meinungsäußerung"

Mehr als drei Jahre mussten die Istanbuler Journalisten Mehmet und Ahmet Altan in Untersuchungshaft auf ihren Prozess warten. Ihre unterschiedlichen Urteile waren Vielen ein Beispiel für die Willkür der türkischen Justiz. Nun sind beide frei - doch ihr Kampf geht weiter.

Von Karin Senz | 06.11.2019
Der türkische Journalist und Schriftsteller Ahmet Altan wird nach seiner Freilassung am 4.11.2019 von seinem Bruder Mehmet Altan (links) mit offenen Armen empfangen.
Mehmet Altan (links) begrüßt seinen gerade freigelassenen Bruder Ahmet (AFP / BULENT KILIC)
Lebenslang – Freispruch. Zwischen diesen beiden Urteilen liegen nur gut 20 Monate. Mehmet Altan sitzt am Schreibtisch in seinem kleinen Büro im Zentrum von Istanbul, den dunkelblauen Pulli über dem weißen Hemd über die Schultern geschwungen.
"Natürlich ist dieser Freispruch wichtig. Insbesondere an einem Punkt, an dem sich der Rechtsstaat so gut wie aufgelöst hat. Aber um mich davon zu überzeugen, dass der Rechtsstaat wieder zurückgekehrt ist, muss der Justizapparat wieder nach den Regeln des Rechtsstaats handeln. Ansonsten herrscht Willkür."
Mehmet wurde freigesprochen - Ahmet verurteilt
Das erste Gericht war überzeugt, dass Mehmet Altan ein Gülen-Mitglied ist, eine Mitverantwortung am Putschversuch 2016 trägt. Auch die regierungsnahen Medien haben gegen ihn gewettert.
"Die Anschuldigungen blieben an mir einfach nicht haften. Man mag mir andichten, was man will… Es ist wie bei einer Teflon-Pfanne: da bleibt eben nichts haften - weil es eben nicht der Wahrheit entspricht."
Mehmet Altan kam schon im Sommer aus dem Gefängnis frei.
Das Foto zeigt den türkischen Journalisten Mehmet Altan (Mitte) kurz nach seiner Freilassung.
Mehmet Altan (Mitte) kurz nach seiner Freilassung (AFP / Dogan News Agency / Ibrahim Mase)
So recht freuen könnte sich der 66-Jährige damals nicht, und kann es auch heute trotz Freispruch nicht. Denn sein älterer Bruder Ahmet wurde im selben Prozess zu mehr als zehn Jahren Gefängnis verurteilt – in einem Prozess, der alles andere als fair war, erzählt die Anwältin der beiden, Figen Calikusu.
"Es waren schwierige Zeiten. Für alle haben sie die Einschränkungen gelockert - nur nicht für uns. Als wir zum Beispiel PCs angefordert haben, damit er sich auf seine Verteidigung vorbereiten kann, wurden das immer abgelehnt."
Ein Mann klebt ein Plakat mit der Aufschrift "#FreeThemAll" und "FreeTurkeyMedia" vor dem Start eines Autokorsos für den "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel an einen Pkw. 
Kritische Journalisten in der Türkei: Der Druck wächst 
Deniz Yücel war der prominenteste deutsche Gefangene in der Türkei – doch Dutzende andere Journalisten bleiben in Haft. Und Entspannung ist nicht zu erwarten. Die Situation scheint sich nach den Wahlen erst einmal weiter zu verschlechtern.
"Alles reine Willkür"
Schließlich durfte Ahmet Altan das Gefängnis in der Nacht auf gestern trotz der Haftstrafe vorerst verlassen: Freunde und Kollegen haben Ahmet Altan nach mehr als drei Jahren wieder in die Arme geschlossen.
Der türkische Journalist und Schriftsteller Ahmet Altan umarmt seine Freunde und Verwandten, nachdem er am 4. November 2019 freigelassen wurde.
Ahmet Altan werden Verbindungen zum 2016 gescheiterten Putsch in der Türkei vorgeworfen (AFP/ Bulent Kilic)
Figen Calikusu kann die unterschiedlichen Urteile für die Brüder nicht nachvollziehen: "Als Ahmet und Mehmet Altan verhaftet wurden, da gab es eigentlich nur einen einzigen Vorwurf: die Meinungsäußerung. Vor Gericht stand die Meinung. Und nicht etwa ein Delikt wie Apfeldiebstahl oder bei Rot über die Ampel fahren. Angeblich gibt es einen Beweis für diese Anschuldigung, nämlich ein paar Zeitungsartikel und Äußerungen im Fernsehen."
Mehmet Altan und sein Bruder gehören zur Intellektuellen-Szene in der Türkei, haben Erdogans AKP-Regierung immer wieder kritisiert. Dass er deshalb Gülen nahestehe, ist für ihn absurd.
"Ich gehöre zu denen, die sehr viel über die Gefahren einer Unterwanderung des Staates durch religiöse Strukturen geschrieben haben. Mein Freispruch kam nicht zuletzt deswegen, weil meine vergangenen Artikel nun einmal überhaupt nicht mit den Anklagepunkten übereinstimmten. Auch Ahmet wird man freisprechen. Es ist aber halt nur so, dass das Gericht auf Ahmet etwas wütender ist als auf mich, darum hat man ihn länger festgehalten als mich und verurteilt. Alles reine Willkür."
"Geld macht das nicht wieder gut"
Mehmet Altan lacht, der ganze Körper wippt mit. Willkürlich auch die Ausreisesperre, die das Gericht für seinen Bruder verhängt hat. Er wird wohl nicht Ende des Monats nach München fliegen können. Da bekommt er den Geschwister-Scholl-Preis verliehen. Seine Anwältin erklärt, warum, er wohl nicht dabei sein kann:
"Um Einspruch dagegen einlegen zu können, müssen wir die endgültige Urteilsbegründung abwarten. Danach können wir vor die höhere Instanz ziehen. Das alles wird mindestens einen Monat dauern."
Mesale Tolu sitzt auf einem Geländer vor der Ulmer Altstadt.
Mesale Tolu: Aus Erdogans Gefängnis in die Lokalredaktion 
Das Schicksal von Mesale Tolu sorgte über Monate für Schlagzeilen. Mehr als ein halbes Jahr saß die deutsche Übersetzerin in der Türkei in Haft. Zurück in ihrer schwäbischen Heimat hat sie nun ein Zeitungsvolontariat begonnen. Mit einem "anderen Blick", wie sie sagt.
Der Kampf der beiden Brüder ist also noch lange nicht zu Ende. Bei Mehmet Altan geht es beispielsweise um eine Entschädigung für die drei Jahre Untersuchungshaft. Die hat ihm das Gericht auch versprochen.
"Aber was bedeutet das schon. Es wiegt die Jahre nicht auf, die man mir von meinem Leben genommen hat. Geld macht das nicht wieder gut."
Er scheint mit all dem aber nicht zu hadern. Seine Hände liegen gefaltet auf seinem Bauch. Dann blitzen die dunklen Augen und er versichert: Er werde auf jeden Fall weiter kritisch schreiben.