"Wem passt der Artikel 301 nicht? Den Lobbys, die uns Türken des Völkermords bezichtigen wollen, den Kollaborateuren, die unsere Einheit untergraben wollen, den sogenannten Intellektuellen, die auf die Beleidigung der Türken spezialisiert sind - sie sind es, denen der Artikel 301 nicht passt. Türkei, erwache! Es ist an der Zeit, zusammenzustehen."
Ein Fernsehspot der nationalistischen Partei MHP gegen die Änderung des Strafgesetzbuch-Artikels 301, des sogenannten Türkentums-Artikels, mit dem in der Türkei tausende Andersdenkende vor Gericht gezerrt wurden. Letzte Woche änderte das türkische Parlament den umstrittenen Artikel endlich, mit den Stimmen der Regierungsfraktion und gegen den erbitterten Widerstand der Opposition. Nicht nur die MHP, auch die andere Oppositionspartei im Parlament, die nominell sozialdemokratische CHP, sieht darin einen Verrat am Vaterland. An wen die Regierung das Land verraten habe, das steht für die Opposition auch fest. Kein Zufall sei es, dass die Reform kurz vor dem heutigen Besuch der EU-Troika in Ankara kam, sagt Hakki Suha Okay, der Vizefraktionschef der CHP:
"Dass diese Novellierung ausgerechnet jetzt eingebracht wurde, ist ja höchst aufschlussreich. Mit dieser Gesetzesänderung liefert die Regierung uns aus an die Europäische Union."
Als Diktat der Europäer und als Kapitulation an die EU kritisieren beide Oppositionsparteien die Ausweitung der Meinungsfreiheit durch die Reform des Artikel 301. Inzwischen führen sie Gespräche über eine gemeinsame Verfassungsklage gegen die Reform. Cengiz Aktar, Professor für Politikwissenschaften an der Istanbuler Bahcesehir-Universität und führender Experte zur türkischen Europapolitik, ist nicht überrascht:
"Die parlamentarische Opposition in der Türkei besteht aus einer rechtsnationalistischen Partei, der MHP, und einer linksnationalistischen Partei, der CHP, deren Politik in letzter Zeit sogar faschistische und nationalsozialistische Motive aufnimmt, vor allem in ihrem Auftreten gegen die nicht-moslemischen Minderheiten. Von diesen Parteien ist keine demokratische Opposition zu erwarten."
Allerdings ist der Experte auch von der Reformpolitik der Regierungspartei AKP nicht beeindruckt. Die Änderung des Artikels 301 hält Aktar für eine Mogelpackung, von der keine substantielle Ausweitung der Meinungsfreiheit zu erwarten ist. Auch in der geänderten Fassung könne die Vorschrift von der Justiz weiter zur Strafverfolgung von Kritikern und Andersdenkenden genutzt werden, argumentiert Aktar.
"Deshalb ist diese Änderung des Artikel 301 nichts als Blendwerk und Augenwischerei, ein bauernschlaues Täuschungsmanöver und sonst nichts. Die AKP reagiert damit auf den Unmut in der EU und in der türkischen Gesellschaft, aber in der Substanz gibt sie damit nichts. Es war ohnehin nicht zu erwarten, dass eine Partei, gegen die ein Verbotsverfahren läuft und die deshalb politisch sehr verletzlich ist im Moment, dass die eine ernsthafte Reform bewerkstelligen könnte."
Der Schwung sei längst raus aus dem Reformkurs der Regierung, sagt Aktar, und das nicht erst seit dem Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei.
"Die AKP hat einige Jahre lang Reformen gemacht in der Türkei, aber mehr wird sie nicht mehr fertigbringen, so wie es aussieht. Seit die EU beim türkischen Beitrittsprozess auf die Bremse getreten ist, seit Ende 2004 also, ist das alles vorbei. Dass die AKP sich nach diesem Bruch noch einmal aufrappeln und auf den Reformkurs besinnen könnte, scheint leider ausgeschlossen. Der Reformflügel hat innerparteilich inzwischen keine Bedeutung mehr."
Auch vom Besuch der EU-Troika in Ankara dürfe man daher nicht viel erwarten, meint Cengiz Aktar. Bei der Visite gehe es weniger um Fortschritte im türkischen EU-Beitrittsprozess als darum, den Schaden für die Beziehungen zu begrenzen, meint Aktar. Deshalb auch der begeisterte Beifall aus Brüssel für die Scheinreform des Artikel 301:
"Die EU-Kommission hat inzwischen verstanden, welche Minimalreformen die Türkei hier macht, und sie hat gelernt, sich damit zu begnügen. Bei der kleinsten Sache rufen sie Bravo, Bravo, aber wie ungenügend das alles ist, das wissen sie in Brüssel auch."
Ein Fernsehspot der nationalistischen Partei MHP gegen die Änderung des Strafgesetzbuch-Artikels 301, des sogenannten Türkentums-Artikels, mit dem in der Türkei tausende Andersdenkende vor Gericht gezerrt wurden. Letzte Woche änderte das türkische Parlament den umstrittenen Artikel endlich, mit den Stimmen der Regierungsfraktion und gegen den erbitterten Widerstand der Opposition. Nicht nur die MHP, auch die andere Oppositionspartei im Parlament, die nominell sozialdemokratische CHP, sieht darin einen Verrat am Vaterland. An wen die Regierung das Land verraten habe, das steht für die Opposition auch fest. Kein Zufall sei es, dass die Reform kurz vor dem heutigen Besuch der EU-Troika in Ankara kam, sagt Hakki Suha Okay, der Vizefraktionschef der CHP:
"Dass diese Novellierung ausgerechnet jetzt eingebracht wurde, ist ja höchst aufschlussreich. Mit dieser Gesetzesänderung liefert die Regierung uns aus an die Europäische Union."
Als Diktat der Europäer und als Kapitulation an die EU kritisieren beide Oppositionsparteien die Ausweitung der Meinungsfreiheit durch die Reform des Artikel 301. Inzwischen führen sie Gespräche über eine gemeinsame Verfassungsklage gegen die Reform. Cengiz Aktar, Professor für Politikwissenschaften an der Istanbuler Bahcesehir-Universität und führender Experte zur türkischen Europapolitik, ist nicht überrascht:
"Die parlamentarische Opposition in der Türkei besteht aus einer rechtsnationalistischen Partei, der MHP, und einer linksnationalistischen Partei, der CHP, deren Politik in letzter Zeit sogar faschistische und nationalsozialistische Motive aufnimmt, vor allem in ihrem Auftreten gegen die nicht-moslemischen Minderheiten. Von diesen Parteien ist keine demokratische Opposition zu erwarten."
Allerdings ist der Experte auch von der Reformpolitik der Regierungspartei AKP nicht beeindruckt. Die Änderung des Artikels 301 hält Aktar für eine Mogelpackung, von der keine substantielle Ausweitung der Meinungsfreiheit zu erwarten ist. Auch in der geänderten Fassung könne die Vorschrift von der Justiz weiter zur Strafverfolgung von Kritikern und Andersdenkenden genutzt werden, argumentiert Aktar.
"Deshalb ist diese Änderung des Artikel 301 nichts als Blendwerk und Augenwischerei, ein bauernschlaues Täuschungsmanöver und sonst nichts. Die AKP reagiert damit auf den Unmut in der EU und in der türkischen Gesellschaft, aber in der Substanz gibt sie damit nichts. Es war ohnehin nicht zu erwarten, dass eine Partei, gegen die ein Verbotsverfahren läuft und die deshalb politisch sehr verletzlich ist im Moment, dass die eine ernsthafte Reform bewerkstelligen könnte."
Der Schwung sei längst raus aus dem Reformkurs der Regierung, sagt Aktar, und das nicht erst seit dem Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei.
"Die AKP hat einige Jahre lang Reformen gemacht in der Türkei, aber mehr wird sie nicht mehr fertigbringen, so wie es aussieht. Seit die EU beim türkischen Beitrittsprozess auf die Bremse getreten ist, seit Ende 2004 also, ist das alles vorbei. Dass die AKP sich nach diesem Bruch noch einmal aufrappeln und auf den Reformkurs besinnen könnte, scheint leider ausgeschlossen. Der Reformflügel hat innerparteilich inzwischen keine Bedeutung mehr."
Auch vom Besuch der EU-Troika in Ankara dürfe man daher nicht viel erwarten, meint Cengiz Aktar. Bei der Visite gehe es weniger um Fortschritte im türkischen EU-Beitrittsprozess als darum, den Schaden für die Beziehungen zu begrenzen, meint Aktar. Deshalb auch der begeisterte Beifall aus Brüssel für die Scheinreform des Artikel 301:
"Die EU-Kommission hat inzwischen verstanden, welche Minimalreformen die Türkei hier macht, und sie hat gelernt, sich damit zu begnügen. Bei der kleinsten Sache rufen sie Bravo, Bravo, aber wie ungenügend das alles ist, das wissen sie in Brüssel auch."