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Türkische Schriftstellerin: AKP hat Chance nicht genutzt

Die in der Türkei seit 2002 regierende Partei AKP hat es in dieser Zeit nicht geschafft, eine Partei der Mitte zu werden, so die Einschätzung der türkischen Schriftstellerin und Journalistin Dilek Zaptcioglu vor den Parlamentswahlen am Sonntag. Stattdessen habe die AKP überall ihre Kader im Staatsapparat platziert und die Islamisierung vorangetrieben.

Moderation: Jochen Spengler |
    Jochen Spengler: Es wird damit gerechnet, dass die AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, am Sonntag als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgehen wird. Da anders als vor fünf Jahren aber dieses Mal mehr Parteien die Zehn-Prozent-Klausel überwinden dürften, muss die AKP wohl mit weniger Sitzen rechnen, als vor fünf Jahren. Am Telefon in Istanbul ist die türkische Schriftstellerin und Journalistin Dilek Zaptcioglu. Guten Morgen, Frau Zaptcioglu.

    Dilek Zaptcioglu: Guten Morgen.

    Spengler: Auch die letzten Wahlen vor fünf Jahren hat die AKP mit 34 Prozent der Stimmen für sich entschieden. Mögen Sie uns vielleicht am Anfang verraten, wie Sie persönlich damals gewählt haben?

    Zaptcioglu: Ich habe damals, obwohl ich nicht rechts wähle normalerweise, der AKP durchaus meine Stimme gegeben.

    Spengler: Warum?

    Zaptcioglu: Ich war kurz davor nach Istanbul, in meine Geburtsstadt, gekommen aus Deutschland und ich hatte beobachtet, dass die AKP so etwas geworden war wie eine Partei der Entrechteten von den Menschen ganz unten und dass sie eben denen eine Stimme gab, die bisher in der Republik vernachlässigt worden waren. Und ich hatte gedacht, dass die anderen Parteien einen Strafzettel verdient hatten wegen der großen Wirtschaftskrise 2001 und dass die AKP mit der Aufbruchstimmung, die sie verbreitete und mit dem Versprechen, eine Partei der Mitte zu werden in der Türkei, durchaus mal eine Chance verdient hatte.

    Spengler: Und was werden Sie am kommenden Sonntag machen?

    Zaptcioglu: Ich glaube, dass die AKP diese Chance nicht genutzt hat. Sie ist nicht eine Partei der Mitte geworden. Und wie wir vorhin gehört haben, wie die Türken am Flughafen, bevor sie in die Türkei geflogen sind, gesagt haben, die weiblichen Wähler, dass sie Angst haben vor dieser Partei und dass sie aus der Türkei einen zweiten Iran macht. Das ist die große Spaltung, die wir hier in der Türkei erleben. In den letzten viereinhalb Jahren hat diese Partei, die allein regiert hat, eben die Chance nicht genutzt, eine Partei der Mitte zu sein und die Ängste der Bürger abzuschaffen vor einer radikalen Islamisierung des Landes. Und sie hat überall ihre Kader im Staatsapparat platziert. Sie hat zum Beispiel über Nacht 14.000 Direktoren von staatlichen Grundschulen ausgetauscht und überall ihre islamistischen Kader eingesetzt. Das Straßenbild hat sich geändert, das Kopftuch hat immens zugenommen. Und wir erleben, dass langsam in diesem Land sich etwas wirklich verändert.

    Spengler: Frau Zaptcioglu, die Konrad-Adenauer-Stiftung ist ja relativ unverdächtig. Sie schätzt die AKP als islamisch-konservativ, aber demokratisch ein, die oppositionelle CHP dagegen als radikal-nationalistisch. Und hier in Westeuropa ist es für uns relativ schwer, tatsächlich genau herauszufinden, wofür steht die AKP? Die EU sagt zum Beispiel, Erdogan hat die Menschenrechte geachtet, er hat die Wirtschaft liberalisiert, er hat die Türkei demokratisiert und näher an die EU geführt. Stimmt das nicht?

    Zaptcioglu: Die AKP hat mehrere Reformpakete verabschiedet, die die türkische Gesetzgebung der europäischen weiter angepasst haben. Wir müssen das so sehen, dass der EU-Prozess schon mit den vorherigen Regierungen angefangen hatte, aber von Erdogan und seiner Partei wirklich konsequenter fortgeführt worden ist, weil die Mehrheit der Türken in die EU wollte vor viereinhalb Jahren. Aber die wirtschaftliche Lage dieser Mehrheit hat sich in keiner Weise verbessert. Hier kursiert der Spruch: Das Land wächst, aber niemand hat etwas davon. Das ist der Spruch auf der Straße, der auch diese Wahlen meiner Ansicht nach prägen wird. Neben der Islamisierung, die das Land erfahren hat, ist auch die wirtschaftliche Misere schuldig an den Stimmen, die jetzt der AKP verloren gehen, weil Erdogan hat eine konsequent neoliberale Politik, Wirtschaftspolitik verfolgt und hat alles privatisiert. Er hat viel Geld einkassiert, das er nicht sinnvoll eingesetzt hat. Und er hat zum Beispiel den großen EU-Traum der Türken eigentlich auch ein Stück austräumen lassen, weil jetzt ungefähr nur noch ein Drittel der Türken in die EU wollen, im Vergleich zu ungefähr 70, 80 Prozent vor viereinhalb Jahren. Das heißt, die innere Situation vor allem wirtschaftlich der Türkei sieht nicht so aus, wie von außen gesehen.

    Spengler: Aber spricht die Liberalisierung, Sie sagen Neoliberalisierung sogar, nicht dagegen, dass es so einen geheimen Plan, so eine Art geheimen Plan von Erdogan gibt, die Türkei zu einem islamischen Gottesstaat zu machen?

    Zaptcioglu: Es ist interessant: Eine islamistische Lebensweise, das heißt, die Verhüllung der Frau sogar mit dem schwarzen Tschador, wie wir das auf den Straßen immer vermehrt auch beobachten, kann sehr gut leben mit unserer Konsumgesellschaft. Das heißt, in den Läden treffe ich zum Beispiel immer mehr auf verhüllte Frauen, die sich dieselbe Ware angucken, die ich mir auch angucke. Und wir sitzen zusammen im selben Hamburger-Restaurant und essen dasselbe Menü. Das heißt, eine bestimmte, sehr tief konservative Lebensweise, die ich ablehne, kann sehr gut leben mit der modernen Konsumgesellschaft. Und das verändert natürlich diese islamische Lebensweise auch in einer gewissen Weise. Aber ob wir das in unserem kurzen Leben noch erleben, das ist die Frage. Und das ist dann die große Angst, die hier kursiert, dass das eben noch schlimmer wird, vor allem für uns Frauen und dass die AKP die Trägerin einer Bewegung wird, deren Herr sie vielleicht gar nicht mehr wird.

    Spengler: Ja, was ist denn die Alternative? Die Rückkehr zu den alten Eliten in Bürokratie und Armee?

    Zaptcioglu: In der Türkei muss das Wahlgesetz verändert werden. Es gibt eine Zehn-Prozent-Hürde für alle Parteien, die ins Parlament wollen. Und das macht es den kleineren Parteien, zum Beispiel der wirklich liberalen weltlichen ANAP oder einer anderen Partei, die unbedingt ins Parlament wieder reinkommen müsste, unheimlich schwer. Das heißt, diese Zehn-Prozent-Hürde muss gesenkt werden auf fünf Prozent, das verlangt auch die EU. Und dann muss, bei den nächsten Wahlen müssen wir dann gucken, dass wir nicht ein Parlament haben aus Islamisten und Nationalisten, sondern ein Parlament, das ausgewogener ist und das auch kleineren Parteien eine Chance wird, wieder zu wachsen.

    Spengler: Ja, könnte der eigentliche Machtkampf nach der Wahl stattfinden? Nämlich zwischen einer regierenden AKP und dem Militär?

    Zaptcioglu: Das ist richtig, das ist auch die große Angst, die hier kursiert vor einem Militärputsch. Das will eigentlich wirklich kaum jemand, weil in unserem Zeitalter ein Militärputsch ist ein großer Rückschritt für ein Land, das sich so in die Zukunft aufgemacht hat. Wir hoffen, dass die Türkei diese Hürden und diese Probleme eigentlich hier auch meistern wird.