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Tunesien am Scheideweg

Es ist ein historisches Ereignis: Am 23. Oktober 2011 wählen die Tunesier eine verfassungsgebende Versammlung. Es sind die ersten freien Wahlen nach 23 Jahren Diktatur unter Machthaber Ben Ali. Tunesien ist damit schon einen Schritt weiter als manches Nachbarland.

Von Birgit Morgenrath | 15.10.2011
    Eine riesige Fahne schwingend singen sie unverdrossen jeden Abend auf der Strandpromenade ihre Freiheit herbei: Männer, Frauen und Kinder aus dem Nachbarland Libyen, die in die tunesische Mittelmeerstadt Sousse geflohen sind. "Free Libya" steht auf T-Shirts, Schlüsselanhängern und Fahnen, die sie an fliegenden Ständen verkaufen. Die Einheimischen lächeln, zollen den Feiernden Respekt. Tunesien, das Mutterland der Arabellion, ist schon einen Schritt weiter. Bald wird eine verfassungsgebende Versammlung gewählt.

    In den Cafés in Tunis diskutieren die Menschen engagiert über die Zukunft des Landes. Spannung liegt in der Luft. Aber Streiks und Demonstrationen, die noch im Juli vom Militär gewaltsam aufgelöst wurden, finden nicht mehr statt.

    In der geschäftigen Avenue Habib Rue Thameur treffen wir in einem der kolonialen Altbauten Dhemgui Nidhal – eine der vielen jungen, blitzgescheiten Tunesierinnen, die per Internet die Revolution begleiteten.

    "Im Januar habe ich kein Auge zugetan und nicht mehr geschlafen, bei mir lief ununterbrochen der Fernseher und ich war ständig mit den sozialen Netzwerken verbunden, ich wollte unbedingt alle Informationen haben und mich dazu äußern. Ich habe dann einen Blog eröffnet, weil es so viele widersprüchliche Informationen gab, auch falsche und ich hatte einen Anwalt zu Hause und der konnte mir immer sagen, welche Aktionen der Sicherheitskräfte legal und welche illegal waren und ich habe das dann im Blog erklärt, um Panik zu verhindern."


    Die zarte 25-jährige Erzieherin mit der großen Brille und den klugen Augen dahinter arbeitet bei einer neuen Nichtregierungsorganisation, die Jugendliche politisch schulen will. Sie sollen selbst aktiv werden, sich eigenverantwortlich für Veränderungen einsetzen. Die hohe Arbeitslosigkeit - für viele junge Menschen einer der wichtigsten Beweggründe für die Revolte gegen Ben Ali – ist immer noch Thema.

    "Die Chancen auf einen Arbeitsplatz sind ungleich verteilt, in den großen Städten wie Tunis und Sousse ist es einfacher, Arbeit zu finden. Also diskutieren wir auch die ökonomischen und sozialen Bedingungen, die die Arbeitssuche so erschweren. Junge Leute ziehen in andere Städte oder wollen sogar in andere Länder auswandern, um auf eigenen Füßen zu stehen."

    Die junge Generation ist misstrauisch gegenüber den etablierten Parteien, sie vertraut auf ihre eigenen Kräfte.

    "Die jungen Leute sind sehr aktiv, aber sie erwarten keine großen Versprechungen. Im Gegenteil: Sie haben Angst davor. Sie wollen lieber unabhängige Kandidaten wählen. Nach der Wahl arbeiten wir erst einmal eine Verfassung aus und dann geht es weiter, Schritt für Schritt. Wir finden es sehr schwierig, einer politischen Partei zu vertrauen. Wir haben doch während der Revolution gesiegt, mehrfach und jedes Mal ohne politische Parteien."

    Vom Misstrauen auch älterer Tunesier gegenüber der Politik erzählt auch Mokhtar Trifi, ein bekannter Anwalt und früherer Vorsitzender der Tunesischen Liga der Menschenrechte: Er hat jahrelang Oppositionelle jeglicher Couleur gegen das Ben Ali Regime verteidigt.

    "Das ist ein wirkliches Problem. Vor allem im Innern des Landes, in den weniger entwickelten Regionen, haben die Leute kein Vertrauen den politischen Prozess und in die Parteien. Und die haben es auch bisher versäumt, sich dort sehen zu lassen. Und über allem schwebt die Frage, ob die Parteien sich nur gegründet haben, um die Revolution zu vereinnahmen."


    Diese Befürchtung betrifft vor allem die islamistische Partei En Nahda. Ihr Mitglieder wurden unter Ben Ali verfolgt und ins Gefängnis geworfen. Heute geben sie sich moderat, wollen die Demokratie und einen zivilen Staat achten sowie die im Vergleich zu anderen arabischen Ländern progressiven Frauenrechte respektieren. Andererseits hat Anführer Rached Ghannouchi stets betont, die Scharia, das religiöse Gesetz der Muslime, stehe über jeder weltlichen Autorität. Überdies ist unklar, ob En Nahda auch radikale Islamisten in ihren Reihen duldet.

    Hunderte Hardliner haben am vergangenen Sonntag versucht, in eine private Fernsehstation einzudringen, die einen Spielfilm über die iranische Revolution von 1979 gezeigt hatte. Darin war Gott als Person aufgetaucht – ein Sakrileg im Islam. Islamistische Schläger stürmten bereits im Juni ein Kino im Zentrum von Tunis, wo die Dokumentation "Kein Herr und kein Gott" der Filmemacherin Nadia el Fani gezeigt werden sollte. Darin konfrontiert die Regisseurin Tunesier unterschiedlichster Herkunft mit ihrer Forderung nach einem säkularen demokratischen Staat. Bis heute erhält sie Todesdrohungen per E-Mail und Facebook.
    Auch als Nadia el Fani sich vergangenes Wochenende in Köln bei einer Vorführung des Afrikanischen Filmfestivals einer Diskussion stellt, ereifern sich Exiltunesier über die streitbare Feministin.

    "Der Titel von dem Film, der war so provokant in Tunesien, weil über 99 Prozent der Tunesier sind ja total anderer Meinung, was Sie jetzt vertreten. Und ich meine auch, diese ein Prozent hat keine Wirkung."

    "Aber Sie stimmen mir doch zu, dass man darüber diskutieren kann? Was soll ich dazu sagen? Das war eine Provokation – ja, das was eine Provokation. Na und?"

    Nadia el Fani, eine Vertreterin des aufgeklärten, gebildeten, häufig links orientierten Bürgertums in Tunesien, sieht die Gefahr, dass Feinde der erkämpften Freiheit diese Freiheit missbrauchen werden.

    "Die islamischen Bewegungen sind ja historische Bewegungen in der arabischen Welt. Das Problem sind die Leute, die sich der Religion bedienen, um Politik zu machen. Für mich hat Religion im politischen System nichts zu suchen."

    Ihrer Meinung nach konnte sich islamistisches Gedankengut schon viele Jahre lang ungehindert in der tunesischen Gesellschaft verbreiten, trotz offiziellen Verbotes.

    "Es ist einfach, in einem Land mit vielen Gläubigen in die Moschee zu gehen, zu predigen und so die Macht an sich zu reißen. Und wenn man in einer Diktatur lebt, wo man keine Parteien gründen und sich unabhängig versammeln kann, sind es die Moscheen, wo sich die Menschen treffen."

    Trotz der politischen Spannungen hoffen viele Tunesier, dass die erfolgreiche Jasmin-Revolution bald in eine Demokratie münden wird. Chemengui Nidhal, die junge Bloggerin, rückt im Konferenzraum im Zentrum von Tunis ihre Brille zurecht und blickt ein wenig sorgenvoll durch die Gläser:

    "Wir müssen erst einmal die Übergangsphase durchstehen. Das wird eine schwierige Zeit, es besteht die große Gefahr, dass wir unser Land wieder verlieren, darum haben wir Angst um unser Land. Aber das ist ja auch ein Beweis für die Veränderung. Denn früher hat ja niemand auch nur bemerkt, dass wir unsere Heimat verlieren könnten. Und heute denkt jeder daran, das wärmt mir das Herz. Wir bleiben wachsam."