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Tunesische Sängerin
Die Stimme der Jasmin-Revolution

Verbotene Künstlerin, Exil-Musikerin, Ikone des Arabischen Frühlings: Die Sängerin Emel Mathlouthi wurde zur Stimme des jungen Tunesiens. Jetzt hat sie ein neues Album veröffentlicht, in dem sie von zerstörten Häusern in ihrem Heimatland, aber auch von der Gleichgültigkeit gegenüber Obdachlosen in Europa und Amerika singt.

Emel Mathlouthi im Gespräch mit Christoph Reimann | 04.03.2017
    Die tunesische Künstlerin Emel Mathlouthi bei einem Konzert zum Friedensnobelpreis in Oslo im Dezember 2015
    Die tunesische Künstlerin Emel Mathlouthi (NTB SCANPIX/EPA/TERJE BENDIKSBY)
    "Kelmi Horra" ("Mein Wort ist frei") wurde zum Soundtrack der Jasmin-Revolution. Geschrieben ist der Song von der Sängerin Emel Mathlouthi, die in den 1980er-Jahren in Tunesien geboren wurde. Als Kind hörte sie sich durch die Plattensammlung ihres Vaters, ließ sich auch von Bob Dylan, Pink Floyd, Rage Against The Machine und Joan Baez inspirieren. Als Musikerin empfand sie das strenge Umfeld der Diktatur schließlich als zu einschränkend und wanderte Ende der Nullerjahre nach Paris aus. Dort entstand unter anderem "Kelmi Horra".
    Inzwischen lebt Emel in New York und hat ein neues Album veröffentlicht. Auf "Ensen" singt sie von zerstörten Häusern in ihrem Heimatland, aber auch von der Gleichgültigkeit gegenüber Obdachlosen in Europa und Amerika. Trotzdem sieht sie sich nicht als Protestsängerin. Sie wolle sich aufgrund ihrer Herkunft keinen Stempel aufdrücken lassen, sondern in erster Linie als Musikerin wahrgenommen werden, sagte sie im Deutschlandfunk.

    Das Interview mit Emel Mathlouthi in voller Länge:
    Christoph Reimann: In den späten Nullerjahren sind Sie ins selbstgewählte Exil gegangen, nach Paris. In welcher Situation befanden Sie sich damals?
    Emel Mathlouthi: Ich habe etwa in den Jahren 2004, 2005 angefangen eigene Songs zu schreiben. Die Traurigkeit, die rebellische Wut und auch die Stärke, die ich damals in mir fühlte, waren sehr präsent in meiner Musik. Dafür gab es zu der Zeit in Tunesien keinen Platz. Es war für mich schnell klar, dass ich nach Europa gehen müsste, wenn es mit der Karriere etwas werden sollte.
    Reimann: Einige Ihrer Songs wie zum Beispiel "Ya Tounes Ya Meskina" ("Armes Tunesien") waren schon früh verboten. Was war so bedrohlich an Ihren Liedern?
    Mathlouthi: Alles. Zunächst mal war ich eine junge Frau, die ungewöhnliche Musik machte. Denn normalerweise treten arabische Sängerinnen mit großem Orchester auf. Sie singen die Lieder anderer und bewegen sich kaum auf der Bühne. Ich hingegen springe bei meinen Auftritten wild herum und nehme kein Blatt vor den Mund. Zu meinen Einflüssen zählen Bob Dylan, Pink Floyd, Rage Against The Machine und Joan Baez. Den jungen Tunesiern hat das sehr gut gefallen. Nur wurde mein Publikum nicht wirklich größer. Denn man ließ mich nicht in die Medien, ich konnte keine Karriere starten.
    Reimann: Hat man auch versucht Sie direkt einzuschüchtern?
    Mathlouthi: Natürlich stand ich immer unter Beobachtung, und es gab ein paar Einschüchterungsversuche. Angst hatte ich aber keine. Die Musik war mein Schutzschild. Bei meinen Auftritten fühlte ich mich von ihr beschützt.
    Reimann: "Kelmti Horra" ("Mein Wort ist frei"), ein Song, den Sie in Frankreich geschrieben haben, wurde zum Soundtrack der Jasmin-Revolution. Wie haben Sie das überhaupt mitgekriegt, wenn Sie gar nicht vor Ort waren?
    Mathlouthi: Ich war schon ab und zu mal da, zum Beispiel in den ersten Tagen der Revolution. Eines Tages sang ich in den Straßen von Tunis diesen Song, während einer Gedenkveranstaltung für die vielen Toten, die im Zuge der Revolution ermordet wurden. Danach reiste ich wieder zurück nach Paris, um an meinem Album zu arbeiten. Dann rief mich meine Schwester an und sagte mir, dass meine Performance überall zu sehen sei. Ein Video davon hatte sich im Netz verbreitet. Plötzlich lief das Lied auch immerzu im Radio und auch im Fernsehen. Das war unglaublich und eine große Ehre für mich. Schließlich ist der Song durchaus ambitioniert und eignet sich nicht gerade zum Mitsingen.
    Reimann: Sie wurden zur Protestsängerin und zur Stimme eines jungen Tunesiens. Damit geht auch eine gewisse Verantwortung einher. Wie gehen Sie damit um?
    Mathlouthi: Eine Verantwortung spüre ich nur mir selbst gegenüber: Bleibe kreativ und authentisch. Ich lasse mich immer von meinen Gefühlen leiten und verwandle sie in Texte und Musik. Aber mit mehr will ich mich nicht belasten. Die Medien wollen mich wegen meiner Herkunft manchmal in eine bestimmte Schublade stecken oder mir einen Stempel aufdrücken. Ich will aber in erster Linie als Musikerin wahrgenommen werden, ganz ungeachtet meines Hintergrunds.
    Reimann: Auf Ihrem neuen Album "Ensen" geht es oft um Trauer und Aggression. Sie singen von zerstörten Häusern, massakrierten Kindern, gestohlenen Leben. Es fällt schwer, da keinen politischen Bezug zu sehen.
    Mathlouthi: Ich denke, mir geht es vor allem um Menschlichkeit. In meinem Song "Layem" geht es zum Beispiel darum, wie geschockt ich war, dass auch in Ländern, die viel reicher als mein Heimatland sind, die Leute absolut gleichgültig an Obdachlosen vorbeigehen. Als Musikerin sehe ich es als meine Aufgabe an, darauf aufmerksam zu machen. Denn wenn wir uns für unsere Mitmenschen nicht mehr interessieren, verlieren wir auch unsere Menschlichkeit. Darüber hinaus habe ich natürlich auch eine dramatische Seite an mir. Und ich denke, es steckt nicht nur diese Dunkelheit, sondern auch viel Licht in dieser Platte. Ich möchte darüber sprechen, wie zerbrechlich wir Menschen auf der einen Seite sind, auf der anderen wiederum aber auch sehr hart sein können. Mich interessieren diese extremen Pole.
    Reimann: Sie leben inzwischen mit ihrem Mann und Ihrer Tochter in New York. Begegnen Ihnen die Leute auf der Straße nun anders, nach Trumps Versuch, Menschen aus sieben vorwiegend muslimisch geprägten Ländern an der Einreise in die USA zu hindern?
    Mathlouthi: Ich denke, das weiß ich erst, wenn mein Album ein paar Tage draußen ist und ich mehr damit in der Öffentlichkeit stehe. Abgesehen von meinem religiösen Ansichten spüre ich schon eine gewisse Verbundenheit mit den betroffenen Ländern. Ich bin auf jeden Fall in einer muslimischen Kultur aufgewachsen. Und obwohl ich selbst nicht religiös bin, gibt es vieles, was ich daran mag. Was ich nicht so gerne mag, ist, dass die Leute auf einmal mit dem Finger auf mich zeigen.
    Reimann: Auf der Straße?
    Mathlouthi: Nein. Eher metaphorisch gesprochen. Es geht schon beim Wort Muslim los. Das ist so, als würde man plötzlich alle Christen in eine Ecke stellen. Was ich der Welt jetzt zeigen will, ist, dass es auch bei uns Menschen gibt, die schon immer offen gegenüber europäischer oder amerikanischer Musik waren, woraus dann etwas Eigenes entstand. Als Musiker sollten wir jetzt versuchen, die Leute durch unsere Kunst zusammenzubringen. Nichts hat mehr Kraft als das. Und genau darum geht es in meiner Arbeit.
    Hinweis: Das Gespräch können Sie nach der Sendung mindestens sechs Monate lang als Audio-on-demand abrufen.