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Tunnelblick, Nachtblindheit und völliges Dunkel

Eine halbe Million sehbehinderte Menschen leben in Deutschland, 150.000 sind blind. Etwa 30.000 von ihnen erblindeten durch eine erbliche Erkrankung der Augennetzhaut, der Retinitis Pigmentosa. Über diese Krankheit, die zunächst schleichend beginnt, ist in der Öffentlichkeit wenig bekannt.

Von Wolfgang Noelke | 03.04.2007
    Dr. Klaus Gehrig ist 53 Jahre alt. Vor drei Jahren bekam der Internist so große Probleme mit seinen Augen, dass er seinen Beruf aufgeben musste.

    " Da war schon mehr die periphere Gesichtsfeldseinschränkung, also das Stolpern, dass Hängenbleiben, Übersehen von Gegenständen im Vordergrund und die hohe Blendungsempfindlichkeit bei besonders grellem Licht, die mich sehr beeinträchtigt hat, während das Lesen doch noch bis Anfang der 40 noch recht gut ging und ohne wesentliche Hilfsmittel machbar war. Wenn Sie fragen, was sehen Sie noch? Also ein bisschen hell-dunkel, ich kann keine Gesichter mehr erkennen, ich kann nicht mehr lesen und ich hab keine Orientierung mehr."

    Bis vor drei Jahren konnte Klaus Gehrigs Gehirn die räumliche Orientierungslosigkeit noch ausgleichen. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt sein Gesichtsfeld schon so weit eingeschränkt, dass er seine Umgebung nur noch wie ein Blick durch eine Toilettenpapierrolle wahr nahm. Der so genannte Tunnelblick ist eins der späteren Symptome der Retinitis Pigmentosa-Erkrankung. Ein anderes, für diese Erkrankung ebenfalls typisches, aber frühes Symptom erlebte Georg Badura, der Gründer der pro Retina-Stiftung:

    " Also ich hatte zum ersten Mal bemerkt, das war so im Alter von 10,12 Jahren, dass ich mich von meinen Kameraden unterscheide dadurch, dass ich nachts als wir beim Zelten waren, nicht so viele Sterne gesehen habe, wie die gesehen haben. Das waren meine ersten Erfahrungen."

    Für Claus Rüther, Professor an der Augenklinik der Berliner Charité brauchen, Menschen die unter normaler Nachtblindheit leiden, sich keine Sorgen zu machen, im späteren Alter an einer Retinitis Pigmentosa zu erkranken. Da es jedoch eine fortschreitende Erkrankung ist, wäre eine sich stetig verschlimmernde Nachtblindheit ein Symptom. Eltern, deren Kinder oft stürzen, sollten auf jeden Fall untersuchen lassen, denn die vererbbare Retinitis Pigmentosa lässt sich schon früh nachweisen:

    " Typische Situation: Ein Kind, das Fahrrad fährt und bestimmte Hindernisse auf dem Weg nicht sieht, dass die ganze Familie sieht, das ist immer ein ganz sicheres Merkmal. Und wenn solches passiert, stolpern über Gegenstände, die man eigentlich sehen müsste und das häufig und nicht betrunken, dann muss man daran denken, dass es ein Augenproblem, ein Gesichtsfeldsproblem sein könnte."

    Je früher Retinitis Pigmentosa erkannt wird, desto höher stehen die Chancen, die Erkrankung zu heilen, denn die Forschung schreitet mit Riesenschritten voran. So gelang es bereits, mit gentherapeutischen Mitteln bei einem an Retinitis Pigmentosa erkrankten Hund das Leiden zu stoppen. Die Wissenschaftler hoffen, dass diese Therapie auch bei Menschen greift. Selbst wenn die Wissenschaftler dafür noch länger benötigen würden, wäre eine frühe Diagnose ratsam, so Professor Claus Rüther denn die Erkrankung tritt meist erst dann auf, wenn die Patienten bereits erwachsen sind und im Beruf stehen:

    " Da geht es bei Kindern darum, wie sie gefördert werden. Kleine Kinder müssen eine Frühförderung bekommen. Schulkinder müssen in der Schule zurecht kommen, sie sind langsamer, sie haben Nachteile gegenüber ihren Altersgenossen. Das muss ausgeglichen werden. Der Berufstätige muss wissen, was er nicht machen darf. Ein Zimmermann auf den Dachstuhl, das gibt es nicht mit Retinitis Pigmentosa. Der Auszubildende oder der Jugendliche, der Schüler muss wissen, welche Berufe er wählen sollte. Und ganz schlimm, das ist immer ganz entscheidend, ist Autofahren mitzuteilen, dass sie nicht mehr Auto fahren dürfen. Das ist also eine der schlimmsten Informationen, die eine Retinitis Pigmentosa Patient überhaupt kriegen kann."

    Die frühe Diagnose erspart den späteren Erkrankten nicht nur den Fall in ein tiefes psychologische Loch, sie können sich auch besser vorbereiten: So könnten sie ihre Augen mit einer Spezialbrille schon früh vor blauem Licht schützen, das bei diesen Patienten besonders schädlichen Einfluss auf die Retina hat. Ähnlich, wie es bereits für Gehörlose einen elektronisches Innenohrimplantat gibt, entwickeln Wissenschaftler ein Implantat, das die verloren gegangenen Sinnesreize der Retina ersetzt.

    Übrigens, so Dr. Rüther, seien beide Erkrankungen, die Retinitis Pigmentosa und die fortschreitende Gehörlosigkeit gar nicht so selten:

    " Da ist es für uns sehr wichtig, dass wir die Kinder besonders früh diagnostizieren, auch eben mit augenärztlichen diagnostischen Mitteln, um eben die Möglichkeit oder die Notwendigkeit eines Cochleaimplantats darzustellen. Ein Patient, der schlecht sieht und schlecht hört, braucht das Cochleaimplantat noch viel mehr, als der, der nur schlecht hört."