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Turboabitur in Nordrhein-Westfalen
"Es macht einen Riesenunterschied"

Die nordrhein-westfälische Landesregierung will an G8 - dem Abitur nach zwölf Jahren - festhalten. Bürgerinitiativen wie die von Marcus Hohenstein kritisieren diesen Weg. Kinder würden dabei zu sehr unter Stress gesetzt, sagte er im DLF. Außerdem könnte die Regierung mit G9 viel Geld einsparen.

Marcus Hohenstein im Gespräch mit Jörg Biesler |
    Gymnasiallehrerin Theresa Neudecker sitzt in einem Gymnasium in Straubing / Bayern vor einer Tafel mit der Aufschrift "G8" und "G9".
    Wie lang soll die Schulzeit dauern? Die Debatte um das "Turbo"-Abitur reißt nicht ab. (picture alliance / dpa)
    Jörg Biesler: Heute hat Nordrhein-Westfalens Schulministerin Sylvia Löhrmann den Landtag eingeschworen auf das Festhalten an G8:
    Sylvia Löhrmann: Sollen wir jetzt zurück? Sollen wir jetzt schulstrukturell an den Gymnasien etwas anders machen? Und da haben bis auf die beiden Bürgerinitiativen alle anderen Verbände gesagt: Nein, das wollen wir nicht, weil wir nicht die Gymnasien jetzt, nach diesem mühevollen Weg, erneut in eine Strukturdiskussion verwickeln wollen.
    Biesler: Die nordrhein-westfälische Schulministerin Sylvia Löhrmann. Heute hat sie den Landtag unterrichtet über die Ergebnisse eines Runden Tisches zum Turboabitur. Empfohlen wurden von der Runde eine Beibehaltung von G8 und einige Maßnahmen zur Entlastung von Schülern und Lehrern. Das reicht nicht, sagt heute erneut die Volksinitiative "Abitur nach 13 Jahren in Nordrhein-Westfalen". Marcus Hohenstein ist ihr Sprecher, und er bezog heute noch mal Gegenposition zur Landesregierung. Guten Tag, Herr Hohenstein!
    Marcus Hohenstein: Schönen guten Tag!
    Biesler: Was ist nicht richtig an den Vorschlägen, die ja eine Reduzierung der Last vorsehen jetzt an den Gymnasien in G8? Weniger Nachmittagsunterricht zum Beispiel, weniger Hausaufgaben, eine Entschlackung der Lehrpläne.
    Hohenstein: Das ist alles, was wir schon von G8 kennen. Hier ist nichts Neues drin, das heißt also, G8 hat bereits die Lehrpläne entschlackt, G8 hat bereits die Hausaufgaben reduziert. All diese Dinge sind bereits da, und die Ministerin macht jetzt einfach so, als ob sie von dem Gleichen noch mehr machen könnte.
    "Welche Interessen vertreten eigentlich unserer Interessenvertreter?"
    Biesler: Sie haben 50.000 Unterschriften schon gesammelt. Bis März haben Sie noch Zeit, rund 15.000 dazu zu sammeln, damit der Landtag sich noch einmal mit Ihrem Anliegen beschäftigt, wieder zu G9 zurückzukehren. Aber Hoffnungen auf Erfolg, die können Sie sich ja eigentlich nicht machen.
    Hohenstein: Der entscheidende Punkt dabei ist, für uns als Eltern und Betroffene stellt sich ja die Frage, welche Interessen vertreten eigentlich unserer Interessenvertreter, unsere gewählten Interessenvertreter im Landtag? Sind es die Interessen der Bevölkerung, die zu Dreivierteln G9 für ihre Kinder möchte? Sind es die Interessen der Kinder, die durch die Schulzeitverkürzung zu massiven Schwierigkeiten gekommen sind? Ein Beispiel sind die Zahl der Kinder, die psychiatrisch behandelt werden in einer psychiatrischen Klinik, die sich in der Zeit der Einführung von G8 verzehnfacht hat. Oder welche Interessen vertreten unsere Volksvertreter? Und diese Frage muss man sich in einer Demokratie schon stellen können.
    Biesler: Sie sind ja nicht nur Vater, das haben Sie gerade schon preisgegeben, Sie sind auch Lehrer. Wie sind denn Ihre persönlichen Erfahrungen mit der Lehre, mit dem Unterricht, mit der Situation der Kinder in der Schule?
    Hohenstein: Für die Kinder bedeutet es ja, dass G8 die sogenannten "Langtage" erfunden hat, und zwar in allen Schulformen des Landes Nordrhein-Westfalen. Das heißt, G8 wirkt sich überall aus. Und diese Langtage heißen, ein Kind hat nach sechs Stunden Unterricht danach eine Pause, die es in der Schule verbringen muss, von einer Stunde, und dann noch zwei weitere Stunden Unterricht. Und das bedeutet, dass das - was jeder Mensch weiß, was auch psychologisch nachgewiesen ist, dass neue Lerninhalte verarbeitet werden müssen - bei den Kindern nicht mehr passieren kann, denn stattdessen kommen wir am Nachmittag zu weiteren neuen Lerninhalten. Das heißt also, die Kinder schaffen es gerade noch, mit viel Aufwand die Sachen ins Kurzzeitgedächtnis hineinzubekommen, und schon nach der nächsten Arbeit ist alles wieder vorbei.
    Biesler: Das ist also eine Analyse, die sich nicht nur darauf bezieht, dass der Stress größer wird für die Kinder, sondern auch, dass der Nutzen, der aus der Schulzeit zu ziehen wäre, geringer wird. Wie erklären Sie sich denn, auch vielleicht aus der Arbeit des Runden Tisches heraus, warum Frau Löhrmann und die rot-grüne Koalition mit ihr, aber sogar die CDU-Opposition in Nordrhein-Westfalen, anders als andere Bundesländer festhalten will an G8? Wie haben Sie das verstanden?
    "Ersparnis von 930 Millionen Euro in sechs Jahren"
    Hohenstein: Der Runde Tisch von Frau Löhrmann diente nur dazu - das hat sie selbst in einem Interview gesagt -, sich ihrer Unterstützung durch die relevanten Gruppierungen zu versichern. Das heißt also, das Ziel war ausschließlich, dass am Ende herauskommt, dass ihre Politik gestützt wird.
    Biesler: Aber die Initiativen gegen G8 waren ja auch beteiligt.
    Hohenstein: Genau. Das ist mit einer marginalen Minderheit, sodass das Ergebnis dieses Runden Tisches, der ja mehrheitsmäßig zusammengesetzt worden ist von der Ministerin, schon vorher feststand. Wenn ich eine Gruppe so zusammensetze, dass ich eine garantierte 95-Prozent-Mehrheit habe, muss ich mich nicht über das Ergebnis wundern.
    Biesler: Jetzt sagen Sie - das ist vielleicht nur ein Randaspekt, aber fand ich doch, ein interessanter, den ich aber nicht gleich verstanden habe -, wenn man zurückkehren würde zu G9, dann könnte man auch Geld sparen, und zwar verhältnismäßig viel?
    Hohenstein: Ja. Das würde für den nordrhein-westfälischen Landeshaushalt eine ganz enorme Ersparnis bringen. Wenn man jetzt auf G9 umstellen würde, würde man innerhalb von sechs Jahren dem Haushalt 930 Millionen Euro ersparen. Das entsteht dadurch, dass ein Abitur, in Nordrhein-Westfalen wie in ganz Deutschland, durch 265 Jahreswochenstunden definiert ist, die die Schüler von der Zeit der Einschulung ins Gymnasium bis zum Abitur absolvieren müssen. Das heißt, diese Zahl ist festgelegt. Wenn ich jetzt diese Zahl statt auf acht Jahre auf neun Jahre verteile, dann habe ich jedes Schuljahr 3,7 Stunden weniger in der Woche. Und da ja die Zahl der Unterrichtsstunden zu unterrichten hat, gleich bleibt, brauche ich auch weniger Lehrerstellen, und auf die Weise ergibt sich dann diese nachgewiesene Ersparnis von 930 Millionen Euro innerhalb von sechs Jahren.
    Biesler: Oder man spart das Geld nicht, und hat einfach mehr Vertretungslehrer für die ausfallenden Stunden. Das wäre vielleicht auch eine ganz gute Idee.
    Hohenstein: Oder man könnte darüber die Klassen verkleinern. Da gibt es viele schöne Sachen, die man da tun könnte.
    "Die Konsequenzen trägt in Zukunft die Wirtschaft"
    Biesler: Jetzt gibt es aber natürlich auch die Argumentation, dass die Schulen nicht schon wieder gezwungen werden sollen, das System umzustellen, und das höre ich auch aus einigen Schulen. Sie sind ja selber in der Schule - wie viel Aufwand wäre das aus Ihrer Sicht?
    Hohenstein: Das muss man ja nicht spekulieren. Da muss man ja nur auf die Erfahrung aus Hessen zurückgreifen. Denn in Hessen hat es ja das gegeben, was in Nordrhein-Westfalen den Wählern und den Bürgern massiv verweigert wird, nämlich eine Wahlfreiheit. Diese Wahlfreiheit führte dazu, dass viele Schulleiter in Hessen durch die Eltern dazu gezwungen wurden, zu wechseln. Das heißt also, es gibt in Hessen Städte, in denen, als die Erlaubnis für G9 kam, nur ein Gymnasium zu G9 gewechselt hat. Alle anderen Schulleiter haben behauptet, das wäre ein großer Aufwand und das wäre den Lehrern nicht zumutbar. Nach diesem Schuljahr gab es wieder Neuanmeldungen für die Schulen, und plötzlich gab es eine unglaubliche Verschiebung der Anmeldezahlen hin zu der einen Schule, die G9 angeboten hat. Daraufhin sind dann auch die anderen Schulleiter umgekippt, und auf die Weise gibt es eben in Hessen ganze Landkreise, wie den Lahn-Dill-Kreis, die Stadt Gießen, Marburg und so weiter, da gibt es nirgendwo mehr G8, weil die Eltern ihre Wünsche eben umsetzen konnten.
    Biesler: Dass die Eltern das wollen, das liegt ja auch nahe. Aber kann man den Ball nicht eigentlich auch ein bisschen flacher halten und sagen, G8 und G9, so einen Riesenunterschied macht das am Ende auch nicht, und die Eltern machen sich ein bisschen zu viel Sorgen darum, dass ihre Kinder vielleicht Stress haben?
    Hohenstein: Nein, es macht einen Riesenunterschied. Es gibt keinen größeren Unterschied, keine größere Veränderung in der Schule als G8 in der Bestehenszeit der Bundesrepublik Deutschland. Und die Konsequenzen trägt ja in Zukunft die deutsche Wirtschaft. Wir haben inzwischen Abiturienten, die ein dezentes Abitur machen an einem G8-Gymnasium und sich anschließend bewerben für einen Ausbildungsplatz als IT- und Systemtechniker. Dafür braucht man eine mittlere Reife. Und da haben wir inzwischen Abiturienten, die in diesem Test, der 75 Punkte bringen sollte, damit man die Ausbildung macht, acht Punkte in "Grundlegende Fähigkeiten der Mathematik" erreichen.
    Biesler: Sagt Marcus Hohenstein, Sprecher der Volksinitiative "Abitur nach 13 Jahren an Gymnasien". Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.