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Turgenevs Bestes

Mit seltener Einmütigkeit erklärten Kollegen und Kritiker "Die Aufzeichnungen eines Jägers" zum "Besten", das Turgenev je geschrieben habe. Der Autor selbst nannte sie sein "Bleibendstes", schon zu seinen Lebzeiten gehörten sie unumstößlich zum Kanon der russischen Literatur und wurden eines der meistgelesenen russischen Bücher überhaupt.

Von Brigitte van Kann | 13.01.2005
    Weil Ivan Turgenev bei uns im Schatten seiner prominenten Zeitgenossen Tolstoj, Dostojewski und Cechov steht, ist sein "großes Buch über Russland und die Russen" ein wenig in Vergessenheit geraten: Als die Friedenauer Presse 2001 unter dem Titel "Letzte Liebe" zwei Erzählungen aus den "Aufzeichnungen eines Jägers" herausbrachte, wurde man wieder an den Schatz dieser "Jäger-Skizzen" erinnert - so übrigens hat Turgenev sie genannt, der wie viele gebildete Russen seiner Zeit nicht nur sehr gut Französisch, sondern auch Deutsch sprach.

    In diesem Herbst nun hat der Manesse Verlag zusammen mit Peter Urban den ganzen Jäger-Schatz für die Bibliothek der Weltliteratur gehoben - angereichert um drei deutsche Erstübersetzungen: zwei Fragment gebliebene Erzählungen aus dem thematischen Umkreis sowie eine letzte, "Ein Ende" betitelt, die Turgenev wenige Wochen vor seinem Tod in französischer Sprache diktierte. Nachwort und Kommentar des Übersetzers nehmen den unkundigen Leser freundlich bei der Hand, halten aber auch für Eingeweihte Überraschendes bereit. Zum Beispiel den niederschmetternden Befund, zu dem der Autor 1874 bei Durchsicht der deutschen Übersetzung seiner "Skizzen" für die berühmte Mitauer Ausgabe kam: ein wunderbares Stück Übersetzungskritik, in geschliffenem Deutsch an den Herrn Verleger adressiert.

    Das alles zusammen ergibt stolze700 Seiten, doch feines Papier und das bewährte kleine Manesse-Format machen daraus keinen Wälzer, sondern ein Buch, das man in die Jackentasche stecken und mit auf die Reise nehmen kann, als Lektüre an Lieblingsplätzen oder auf unverhofften Zeitinseln - wozu sich die "Jäger-Skizzen" besonders eignen, weil jede von ihnen auch für sich gelesen werden kann.

    Lev Tolstoj rühmte an den "Aufzeichnungen eines Jägers" vor allem das Neue der Form, die Essay, Notiz und Erzählung miteinander verbindet. Zusammengehalten werden die "Aufzeichnungen" durch die Person des Ich-Erzählers, eines Adligen, der als passionierter Jäger durch die Lande streift, mal in einer Bauernkate Zuflucht vor einem Gewitter sucht, mal im Heu, mal in einem Gutshaus übernachtet und die Bekanntschaft der verschiedensten Menschen macht - Bauern, leibeigene und freie, wohlhabende und verarmte Gutsbesitzer, Knechte, Pferdediebe, Narren in Christo...

    Als Ivan Turgenev, der sich bis dahin als Dichter verstanden hatte, 1847 sein erstes Stück Jäger-Prosa in der Zeitschrift "Sovremennik" veröffentlichte, machte es ihn mit einem Schlag berühmt und "überzeugte den Autor selbst von seinem Talent", wie dieser später im Rückblick auf seine Anfänge schrieb. Weitere Geschichten folgten, der Herausgeber erfand den Untertitel "Zapiski ochotnika" - "Aufzeichnungen eines Jägers", um die Zensur auf die falsche Fährte zu locken. Das gelang nur bedingt, denn sie rupfte die einzelnen Episoden gründlich und erst bei der Buchausgabe von 1852 gelang es Turgenev, die Schäden zu reparieren.
    Der Zensor, der die "Aufzeichnungen" in dieser Form genehmigt hatte, wurde allerdings seines Amtes enthoben und Turgenev für zwei Jahre auf das elterliche Gut verbannt. Der Grund für die wütende Reaktion der zaristischen Obrigkeit waren die Stellen, die das Los der leibeigenen Bauern, die Macht und den Machtmissbrauch der Gutsbesitzer beleuchteten. Schon als 24jähriger hatte Turgenev für das russische Innenministerium eine Denkschrift verfasst, in der er von der "Befreiung der Bauern" als dem "zahlreichsten und dem, was immer man sagen mag, stärksten, dem kräftigsten aller Stände" gesprochen hatte, doch jede öffentliche Diskussion über dieses Thema war im damaligen Russland per Dekret verboten.

    Dabei hatte der Autor seine Kritik an den herrschenden Zuständen ohne den geringsten Anflug einer Tendenz, geradezu diskret unter die Jäger-Skizzen gemischt. Peter Urban zitiert in seinem Nachwort den Dänen Georg Brandes, der über Turgenev schrieb: "Niemals ist ein großer und fruchtbarer Schriftsteller weniger lärmend gewesen als er." Wie beiläufig und leise - und darum um so wirkungsvoller - Turgenev sein Anliegen vortrug, wird im Vergleich mit anderen russischen Schriftstellern wie Bunin oder Leskov deutlich, die das Unrecht und die Sklaverei auf dem Lande in schreienden Farben schilderten.

    Dem heutigen Leser offenbaren die "Aufzeichnungen eines Jägers" eine längst vergessene, vergangene Welt: Liebevoll, dabei detailgetreu wie ein Ethnograph, hat der Autor das bäuerliche Russland seiner Zeit festgehalten, von den Hütten und Höfen, den Arbeitsmethoden und -geräten bis hin zur Kleidung, zur Sprache, den Sitten und Gebräuchen. Und selten hat ein Schriftsteller eine so bunte Mischung unterschiedlichster Menschen mit soviel Genauigkeit, Mitgefühl und feiner Ironie porträtiert wie Turgenev in seinen Jäger-Geschichten.

    Aber die eigentliche Heldin dieser Prosa, deren beste Momente für Nabokov "Öl und Honig" waren, ist die russische Natur: der Wald und die Steppe, Schwemmwiesen und Birkenhaine mit ihren Pflanzen und Tieren, im Morgenlicht, in der Mittagsglut oder wenn die ersten Sterne aufziehen, im Frühling, im Sommer, im frühen und im späten Herbst. Ivan Turgenevs Naturschilderungen sind unübertroffen. Sie leuchten und duften, und man kann es nur als Wunder bezeichnen, dass der Autor die meisten dieser Schönheiten fern von Russland beschworen hat, im westlichen Ausland, wo er in der Nähe seiner Freundin Pauline Viardot fast sein ganzes Leben verbrachte.

    Für Nabokov waren diese Naturschilderungen "zart getönte Genrebilder, eher Aquarellen vergleichbar als dem flämischen Glanz von Gogols Bildergalerie". Doch auch zarte Farben müssen von Zeit zu Zeit aufgefrischt werden - und das ist Peter Urban mit seiner Übersetzung gelungen.