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Turteltanz von Intellekt und Gefühl

Jeffrey Eugenides neues Buch "Die Liebeshandlung" ist ein klassischer Liebesroman mit den Stilmitteln des 21. Jahrhunderts. Der Schriftsteller schildert das Dreiecksverhältnis seiner Protagonisten als Turteltanz von Intellekt und Gefühl.

Von Sacha Verna | 30.10.2011
    In jenen Zeiten, als der Erfolg im Leben von der Heirat, die Heirat aber wiederum vom Geld abhing, stand den Romanciers ein Stoff zur Verfügung, über den sie schreiben konnten. Die großen Heldenlieder besangen den Krieg, der Roman besang die Ehe. Die Gleichberechtigung, gut für die Frauen, war schlecht für den Roman. Und die Praxis der Scheidungen hatte ihm den Rest gegeben. ( ... ) Wo fand man den marriage plot mit seiner verstrickten Liebeshandlung heute noch? Nirgends.

    "Heute” ist 1982 und "nirgends" sicher ein bisschen übertrieben. Denn die Lust am Verheiraten ihrer Figuren ist den Schriftstellern nie wirklich vergangen. Meister des Zweisamkeitsplots wie John Updike mögen sich zwar auf das verlegt haben, was auf den Austausch der Ringe folgt: Schwiegermütter, Seitensprünge, Paartherapie. Doch Romane, in denen es zwischenmenschelt und beziehungswuselt, in denen es herzelt und schmerzelt, sind nicht wegzukriegen, egal auf welchem literarischen Niveau.

    Die Romankunst, deren Niedergang der eingangs zitierte Professor beklagt, ist die von Jane Austen, den Brontë Schwestern und George Eliot, von Charles Dickens und Henry James. Es ist der große realistische Roman des neunzehnten Jahrhunderts. Es sind auch die Romane, die im Bücherregal von Madeleine Hanna stehen und Jeffrey Eugenides' Protagonistin gleich auf der ersten Seite von "Die Liebeshandlung" als hoffnungslose Romantikerin entlarven. Eigentlich sollte sich Madeleine nämlich für Apodikta wie diese begeistern:

    Woran aber übt die Schrift selbst, in ihrem nicht phonetischen Moment, Verrat? Am Leben. Gleichzeitig bedroht sie den Atem, den Geist und die Geschichte als Selbstbezug des Geistes. Sie ist deren Ende, Endlichkeit und Paralyse.

    Jacques Derrida, "Grammatologie", Pflichtlektüre im Seminar "Semiotik 211". Wir befinden uns in den 80er-Jahren, und an jedem anständigen College in Amerika werden die Helden des Dekonstruktivismus besungen. Es wird der Tod des Autors gefeiert und generell alles infrage gestellt, was Sinn ergibt. Madeleine versucht sich anzupassen, aber ach:

    Einen Roman zu lesen, nachdem man semiotische Theorie gelesen hatte, war, wie freihändig statt mit Handgewicht zu joggen. Sobald Madeleine das Semiotik-Seminar hinter sich hatte, floh sie in die Rockefeller-Bibliothek und dort nach unten in die B-Ebene, wo die offenen Magazine einen belebend modrigen Geruch verströmten, und griff sich etwas heraus – irgendetwas, "Das Haus zur Freude" oder "Daniel Deronda" -, um wieder zu Verstand zu kommen. Wie wunderbar war es doch, wenn ein Satz logisch auf den anderen folgte! Was für ein exquisites Schuldgefühl bei der Sünde, sich an Geschichten zu erfreuen! Mit einem Roman aus dem neunzehnten Jahrhundert fühlte Madeleine sich in Sicherheit. Es würde Menschen darin geben. Etwas würde ihnen widerfahren, in einer Welt, die unserer ähnlich war.

    Außerdem ...:

    ... gab es (darin) jede Menge Hochzeiten. Und es gab unwiderstehliche, düstere Männer jeder Art.

    Womit wir wieder beim marriage plot wären und bereits mitten in Jeffrey Eugenides' "Die Liebeshandlung".

    Nun ist Jeffrey Eugenides ein Autor, der im Post-alles-möglichen ebenso versiert ist wie im Meta-alles-übrigen. In "Die Liebeshandlung" unternimmt er die Rekonstruktion des klassischen Liebesromans vor dem Hintergrund seiner Dekonstruktion. Während die Zeit, in der "Die Liebeshandlung" spielt, den literarischen Realismus für unzulänglich erklärt und Roland Barthes den Begriff der Liebe an sich demontiert, verlieben sich Eugenides' Figuren literarisch realistisch, wenn auch nicht mit Happyend.

    Und das geht so: Mitchell Grammaticus ist auf der Suche nach einer Möglichkeit, Madeleine Hanna für sich zu gewinnen, und auf jener, nach dem Sinn des Lebens. Madeleine braucht jemanden, der sie braucht, und glaubt diesen in Leonard Bankhead gefunden zu haben. Leonard Bankhead wiederum ist manisch-depressiv und wünscht sich nichts sehnlicher, als die Welt nicht mit sich zu behelligen und nicht von ihr behelligt zu werden – was leider das Gegenteil zur Folge hat. Alle drei kämpfen mit den Ansprüchen von Eltern, die ihnen eine teure Ausbildung bezahlt haben. Sie sehen sich mit den Realitäten des Erwachsenenlebens konfrontiert, von dem sie nach Jahren im intellektuellen Spa einer amerikanischen Eliteuniversität gnädig verschont worden sind.

    Der Roman beginnt am Tag der Graduierung von Mitchell, Hanna und Leonard und endet ein Jahr danach. Er wandelt sich vom Campus- zum Bildungsroman und ist, wie der Titel neben manch anderem suggeriert, hauptsächlich und in erster Linie ein Liebesroman.

    Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive der drei Protagonisten. Mitchell ist ein Rationalist mit religiösen Bedürfnissen und entsprechenden Anwandlungen:

    Je mehr Mitchell über Religionen las, die Weltreligionen im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen, umso klarer wurde ihm, dass die Mystiker alle das Gleiche sagten. Erleuchtung entsprang dem Auslöschen des Begehrens. Das Begehren zeitigte keine Erfüllung, sondern nur vorübergehende Sättigung, bis die nächste Versuchung des Weges kam. Und auch das nur, wenn man das Glück hatte zu bekommen, was man haben wollte. Wenn nicht, verbrachte man sein Leben in unerfüllter Sehnsucht.

    Wie lange hatte er nicht insgeheim gehofft, Madeleine Hanna zu heiraten? Aber wie viel von seinem Wunsch, Madeleine zu heiraten, beruhte darauf, dass er sie wirklich und wahrhaftig als Menschen mochte, und wie viel auf dem Verlangen, sie zu besitzen und dadurch sein Ego zu erfreuen?


    Dass sich das Ego und noch weniger die Sehnsucht nach Sex mit der Angebeteten nicht durch die Lektüre von Augustinus oder Teresa von Avilas unterdrücken lassen, lernt Mitchell auf die harte Tour.

    Aber auch für Madeleine ist nicht alles mit Zuckerguss überzogen. Weder die Seersucker-Kultiviertheit noch der relative Liberalismus ihres typisch weißen, angelsächsischen, protestantischen Elternhauses bereitet das stets beliebte, stets erfolgreiche Mädchen auf das Leiden vor, das wahre Leidenschaft in sich birgt. Mit Leonard Bankhead, dem Philosophie- und Biologiestudenten, verfällt Madeleine einem charismatischen Genie, einem Menschen von ungeheurem Witz und ungeheurer Traurigkeit, dessen psychische Labilität ihn selber und andere zerstört.

    "Es ist mein Lebensziel, zu einem Adjektiv zu werden."

    … sagt Leonard, der amüsante, bezaubernde Leonard, nachdem er Madeleine an ihrer offiziellen Verabredung zu Fellinis "Amarcord" ins Kino eingeladen hat:

    "Man würde herumgehen und sagen: 'Das war ganz schön bankheadisch.' Oder: 'Etwas zu bankheadisch für meinen Geschmack.'"
    "Bankheadisch, das hat was", sagte Madeleine. "Ist jedenfalls besser als bankheadesk."
    "Oder bankheadsch. "
    "Einfach nur sch ist grausam. Es gibt joyceanisch, shakespearisch, faulknerianisch. Aber einfach sch? Wer will schon einfach sch sein? Thomas Mannsch? "
    "Kafkaesk”, sagte Leonard. "Pynchonesk! Pynchon könnte man auch so als Adjektiv gebrauchen. Gaddis. Was wäre Gaddis? Gaddisesk? Gadissisch? "
    "Mit Gaddis geht es irgendwie nicht richtig", sagte Madeleine.
    "Tja”, sagte Leonard. "Pech gehabt, Gaddis. ( ... ) Und Bellow? ( ... ) Auch schwierig, man müsste das w aussprechen. Nabokovisch, das russische v ist besser. Ja, die Russen kriegen's gebacken. Tolstoianisch! Der hat nur darauf gewartet, ein Adjektiv zu werden. "
    "Vergiss nicht den Tolstoianismus", sagte Madeleine.
    "Himmel! ", sagte Leonard. "Ein Substantiv! " Das habe ich nicht mal zu träumen gewagt, ein Substantiv zu sein. "
    "Was würde bankheadisch bedeuten? "
    Leonard dachte eine Sekunde lang nach. "Abgeleitet von oder bezogen auf Leonard Bankhead (Amerikaner, geboren 1959), bekannt für seine exzessive Introspektion oder Beunruhigung. Finster, depressiv. Siehe hoffnungsloser Fall. "


    Und das ist bankheadisch:

    Dieser monotone Monolog eines ungewaschenen, mitten im Zimmer auf dem Rücken liegenden Kerls. Diese unmodulierte Rezitation der Misserfolge seines jungen Lebens, Misserfolge, die ihn in seiner Vorstellung bereits jetzt zu einer schwindsüchtig zerfallenen Existenz verdammten. "Wo ist Leonard", fragte er ständig am Telefon? Wo war der Tausendsassa, der mit der linken Hand einen zwanzig Seiten langen Aufsatz über Spinoza schreiben konnte, während er mit der rechten Schach spielte? Wo war der professorale Leonard, Verkünder obskurer Thesen über die Geschichte der Typographie in Flandern versus Wallonien, Vortragender elaborierter Abhandlungen über die literarischen Verdienste von sechzehn ghanischen, kenianischen und ivorischen Romanciers, deren Werke in einer von "Out of Africa" betitelten Taschenbuchreihe aus den sechziger Jahren erschienen waren, die Leonard einst bei Strand aus den Regalen gezogen, zu fünfzig Cent das Stück erworben und dann Band für Band von vorn bis hinten durchgelesen hatte? "Wo ist Leonard", fragte Leonard. Leonard wusste es nicht.

    Jeffrey Eugenides schildert das Dreiecksverhältnis seiner Protagonisten als Turteltanz von Intellekt und Gefühl. "Die Liebeshandlung" ist "Sinn und Sinnlichkeit", als Experiment neu erfunden fürs 21. Jahrhundert. Indem er seinen Roman in einer Epoche ansiedelt, in der die Liebe zum sozialen Konstrukt erklärt worden ist, und Liebesgeschichten als Anachronismen gelten, zeigt sich der Autor über sämtliche literaturtheoretische Zerstückelungsversuche erhaben und entgeht zugleich dem Kitschverdacht. Er signalisiert: Ich weiß um die Gefahren literarischer Konvention und ergebe mich ihr eben deshalb. Er frönt dem erzählerischen Traditionalismus und gibt sich immer dann – sehr diskret natürlich - als Lyotard- und Eco-Schüler zu erkennen, wenn die Handlung ins allzu Abgelutschte abzugleiten droht.

    Man stellte sich den potenziellen Schwiegersohn vor, der zum ersten Mal seine potenzielle Schwiegermutter trifft. Eine Szene, die zum Repertoire jedes Liebesromans gehört, der den Namen verdient. Eugenides lässt dieses Treffen zwischen Leonard und Madeleines Mutter Phyllida in einem Labor stattfinden, in dem Leonard - was wohl? Ausgerechnet das Paarungsverhalten von Hefezellen untersucht. Selbst die Hefezellen sind bei Eugenides am Balzen!

    (Leonard) legte den Objektträger unter das Mikroskop. ( ... )
    "Oh, da sind sie", sagte Phyllida, während sie die Schärfe selbst einstellte.
    "Sehen Sie es? Das sind Hefezellen. Wenn Sie ganz genau hinschauen, merken Sie, dass einige größer sind als andere. "
    "Ja! "
    "Die großen, das sind die diploiden Zellen. Die haploiden sind kleiner. Fokussieren Sie auf die kleineren, die haploiden. Manche müssten sich strecken. Sie machen es vor der Paarung. "
    "Ich sehe eine, die hat an einem Ende einen ... Auswuchs. "
    "Das ist ein Shmoo, so heißt das. Das Zeichen für ihre Paarungsbereitschaft. "
    ( ... )
    Phyllida schaute noch eine weitere Minute gebannt ins Mikroskop, ohne viel darüber verlauten zu lassen, was sie sah. schließlich hob sie den Kopf. "Also, es wird nie wieder wie früher sein, wenn ich an Hefe denke.( ... ) "


    Das ist Komik vom Feinsten.

    Die ironische Brechung, dem Eugenides' Version der Liebeshandlung unterliegt, könnte bei einem selbstgefälligeren Autor auf Dauer ihren Reiz verlieren und verpuffen. Das tut sie nicht. Allerdings muss die Handlung sich selber tragen, hat man als Leser den Funktionsmechanismus des Romans einmal durchschaut. Das tut sie nicht immer.

    Zunächst zu all dem, was gelungen ist. Gelungen sind die Figuren. Die inneren Landschaften, die Eugenides für Mitchell, Madeleine und Leonard entwirft, wirken so plastisch wie die äußeren Landschaften, in denen er die drei agieren lässt.

    Nachts rüttelte eine unsichtbare Hand (Madeleine) alle paar Stunden wach. Der Kummer war physiologisch, eine Störung im Blut. Manchmal verging eine ganze Minute in namenlosem Grauen – der tickenden Uhr am Bett, dem blauen Mondlicht, das die Fensterscheibe wie mit Leim überzog -, bevor sie sich an die knallharte Tatsache erinnerte, die es ausgelöst hatte.

    Ob Madeleines Verzweiflung nach einer ersten Trennung von Leonard oder der Verkehr am Tag der Abschlussfeierlichkeiten an der Universität:

    Geräumige Elternfahrzeuge (Cadillacs und Mercedes der S-Klasse, gelegentlich auch ein Chrysler New Yoker oder Pontiac Bonneville) bahnte sich ihren Weg von den Downtown-Hotels zur Graduierungszeremonie oben auf dem College Hill. An jedem Steuer saß ein Vater, dem Augenschein nach zuverlässig und entschlossen, aber wegen der vielen Einbahnstraßen ( ... ) beim Fahren etwas zögerlich. Auf den Beifahrersitzen saßen Mütter, die nirgends außer hier, in der vom Gatten chauffierten Familienkutsche, ihrer häuslichen Pflichten entbunden waren und es sich erlauben konnten, auf die hübsche Szenerie der Collegestadt hinauszustarren. In den Autos wurden ganze Familien angekarrt, meistens Geschwister, aber hin und wieder auch Großeltern, die man unterwegs ( ... ) aufgelesen hatte, damit sie sahen wie Tim oder Alice oder Prakrti oder Heejin sich ihr hart erkämpftes Pergament abholten.

    Ob also drinnen oder draußen, die Welt, die Jeffrey Eugenides zeichnet, ist verführerisch dreidimensional.

    Besonders anrührend ist Leonard. Seine Stimme wird erst im letzten Drittel des Romans richtig hörbar, wie die Lewins in Tolstois "Anna Karenina", jener Liebestragödie des neunzehnten Jahrhunderts, auf die Eugenides mehrfach anspielt. Leonards Sicht der Dinge und von sich selber unterscheidet sich erwartungsgemäß von der Madeleines und Mitchells. Überzeugend schildert Eugenides das Hochgefühl des manischen Leonard und die konturlose Ödnis, der Leonard sich ausgeliefert fühlt, wenn er regelmäßig sein Lithium nimmt:

    Leonard konnte die riesige Flut von Traurigkeit spüren, die darauf wartete, über ihn hereinzubrechen. Aber es gab einen unsichtbaren Damm, der ihn davor schützte, sich der Realität zu stellen. Es war, wie wenn man einen Plastikbeutel voll Wasser zusammendrückt und die Eigenschaften des Wassers spürt, ohne nass zu werden.

    Dann wiederum bietet Jeffrey Eugnides herrlichen Humbug wie diesen:

    Eines Morgens, während Leonard sich einen Toast machte, hielt er ein Päckchen Land-O'Lakes-Butter hoch. "Ich habe da mal eine Frage", sagt er. "Wer war der erste Mensch, der gemerkt hat, dass die Knie der Indianerin von Land- O'Lakes wie Brüste aussehen? Irgendein Kerl sitzt in Terre Haute beim Frühstück, sieht das Butterpäckchen vor sich und denkt: 'Sieh bloß einer diese Knie an.' Aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Nach jener ersten Einsicht muss jemand anders auf die Idee gekommen sein, aus der Rückseite des Päckchens ein zweites Paar Knie auszuschneiden und es hinter das Butterpäckchen zu kleistern, das die Indianerin vor ihrer Brust hält, und dann die Ränder des Butterpäckchens so einzuritzen, dass es aufklappt, als ließe sie ihre Brust blitzen. Das alles hat sich zugetragen ohne irgendeine schriftliche Überlieferung. Die Geschichte ist an den Hauptpersonen vorbeigerauscht. "

    "Die Liebeshandlung" ist ein Buch über, nein, nicht Butter, sondern über Bücher und über Menschen, die sich über ihre Lektüre definieren. Madeleine pflegt das literarische Erbe der Viktorianer, Mitchell die Erkenntnisse der Religionswissenschaftler, und Lenoard jongliert mit der Philosophie des Morgen- und des Abendlandes zusammen. Genau darin liegt die Schwäche diese Romans. In dieser "Liebeshandlung" steckt so viel Buch, dass sie nicht über die Bibliothek hinausreicht, in der sie spielt.

    Da sind die Figuren, gelungene Figuren, wie gesagt. Sie kleben in ihrem Milieu fest. Es ist, als würde man mit ihnen durchs immer gleiche Fernrohr auf die immer gleiche Bergspitze starren und den Rest des Horizonts ignorieren.

    Sicher, Mitchell ist als Sohn griechisch-irischer Immigranten in Chicago nicht mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund aufgewachsen. Vermutlich nicht einmal mit einem silbernen Löffel wie Madeleine in dem hundertjährigen Tudor-Haus ihrer Familie in New Jersey mit den verblichenen Orientteppichen und den Platanen vorm Eingang. Mitchell verschlägt es auf seiner spirituellen Selbstsuche sogar nach Kalkutta, wo er in Mutter Theresas Sterbehospiz Leprakranken die Füße wäscht. Doch auch er kehrt, etwas dünner und kurzgeschoren, in die gebildete, privilegierte Gesellschaft zurück, aus der er vorübergehend ausgebrochen ist. Er benimmt sich, freiwillig oder unfreiwillig, wie jedes Mitglied der Generation, die in den 1980er-Jahren zwar in ein Amerika der Rezession entlassen worden ist, darin aber seinen Platz finden wird.

    Sicher, Leonard ist Stipendienempfänger. Seine Eltern sind minderbemittelte Alkoholiker, geschieden und wohl auch für einen Teil seiner seelischen Schäden verantwortlich. Bei Leonard wurde überhaupt nicht gelöffelt. Er musste froh sein, wenn er als Zehnjähriger irgendwo eine Tiefkühlpizza auftreiben konnte.

    Obgleich also Jeffrey Eugenides' Protagonisten durchaus aus unterschiedlichen sozialen Schichten stammen und diese auch anschaulich geschildert werden, ist die Bühne, auf der sie bewegen, klein und sauber gefegt. Die Scheinwerfer verhindern von dort aus den Blick in den Zuschauerraum und umgekehrt sehnt man sich als Zuschauer nach einer Weile nach Luft und zumindest in die Lobby des Theaters.

    Das ist das eine. Das andere ist die Struktur des Romans an sich. "Die Liebeshandlung" ist ein Purzelbaum, der um sich selber purzelt. Es ist ein glänzendes Beispiel literarischen Solipsismus'. Eugenides Strategie mag schlau sein und raffiniert, bleibt aber letztlich unbefriedigend.

    "Middlesex", Jeffrey Eugenides' mit dem Pulitzer Preis gekrönter letzter Roman, verfügte über eine epische Breite, die einen bis ins Smyrna der 1920er-Jahre versetzte, und über einen originellen Erzähler, einen Hermaphroditen. Eugenides' Debüt "Die Selbstmord-Schwestern" lebte vom Chor der Männer, vom "wir", das von den fast schon surrealen Harakiris einer Reihe junger Mädchen kündete.

    "Die Liebeshandlung" nimmt sich dagegen erschreckend gewöhnlich aus. Noch einmal: Das ist Teil der Idee. Und man unterhält sich auch gut bei Mitchells klugen Universums-Eklärungs-, bei Madeleines Leonard-Rettungs- und bei Leonards Selbstauslöschungsversuchen. Mitchells farbengesättigte Abenteuer in Indien kontrastieren mit dem gepflegten Grün des Collegestädchens in Neugengland. Madeleines Bürgerlichkeit kommt ihrem Auflehnungswillen in die Quere. Sie mag die zweiteiligen Kostüme mit den passenden Handtaschen ihrer Mutter nicht, aber sie mag ihre Mutter. Leonards Dämonen verdienen die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwird, wie auch seine Darbietungen als charmanter Pfiffikus. Mitchell, Madeleine und Leonard begehren und quälen einander. Sie sind sympathisch und hegen romantische Hoffnungen in einer unromantischen Zeit.

    Gleichwohl schafft Jeffrey Eugenides die Quadratur des Liebesdreiecks nicht. Und das müsste er, wollte er für den marriage plot des 19. Jahrhunderts tatsächlich eine dem 21. Jahrhundert angemessene neue Form finden. Aber vielleicht braucht die Liebeshandlung gar keine Form. Vielleicht ist es ganz legitim, dass das literarische Wer-mit-wem vom Heute noch immer am besten nach denselben Regeln des Wer-mit-wem von gestern funktioniert.

    Wo fand man den marriage plot mit seiner verstrickten Liebeshandlung heute noch?

    ... fragte einst Madeleines Professor.

    Nirgends.

    ... lautete seine Antwort. Nun, das stimmt nicht, wie Jeffrey Eugenides mit diesem Roman zeigt. Und das ist gut so.

    Jeffrey Eugenides: "Die Liebeshandlung". Roman. Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 623 Seiten. 26.90 Euro