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"Tutuguri" auf dem Musikfest Berlin
Vernichtungssüchtiges Stampfen und Toben

1936 ist der französische Theatererneuerer Antonin Artaud zu den Tarahumara im Norden Mexikos gereist und erlebte dort den Kult der schwarzen Sonne. Er verarbeitete seine Erlebnisse im Gedicht "Tutuguri". Der Komponist Wolfgang Rihm hat sich davon Anfang der 80er-Jahre zu einem seiner radikalsten Werke inspirieren lassen - das nun das Musikfest in Berlin eröffnete.

Von Julia Spinola |
    Der Komponist Wolfgang Rihm, aufgenommen am 11.08.2011 in Karlsruhe.
    Der Komponist Wolfgang Rihm. (picture alliance / Bernhard Schmitt)
    Ein Getriebener tritt vors Publikum. Die kinnlangen Haare hängen wirr um das markante Gesicht, sein Blick ist irr und allerlei Ticks und Zuckungen quälen die hagere Gestalt. Besessen schleudert der Mann die dunkel-flammenden Verse von Antonin Artauds "Tutuguri"-Gedicht in den Saal und fuchtelt dazu mahnend mit einem zerknüllten Blatt Papier in der Hand. Graham Forbes Valentine, einer der großartigen Schauspieler aus Christoph Marthalers Theaterfamilie, mimt diese Figur mit größter Drastik.
    Kein Zweifel: Es ist das Bild des bereits von Drogen und psychiatrischen Zwangsbehandlungen zerrütteten Dichters selbst, das in der Berliner Philharmonie Wolfgang Rihms gigantomanisches Klanggewitter einleitet. Die Verse evozieren eine abgründige Bilderflut, die obsessiv um schwarze Sonnen, blutige Pferde, verkohlte Erde und eine düstere Kreuzsymbolik kreist. Und wenn sich in die letzten Zeilen die eröffnenden Flötentöne von Rihms Komposition mischen, nimmt ein schier apokalyptisches Klangspektakel seinen unaufhaltsamen Lauf.
    Dröhnende Unmittelbarkeit
    In doppelter Brechung beschwört Rihm jenen alten Ritus der mexikanischen Tarahurama-Indianer, den Artaud 1936 beobachtet hatte: das im Peyotl- und Mescalinrausch vollzogene indianische Ritual der schwarzen Sonne, das Eros und Thanatos wild halluzinierend zusammenzwingt. In Rihms orchestrale Klangexzesse mit ihren brutalistischen Schlagwerkorgien, Tam-Tam-Gewittern, obsessiven Streicherpatterns und Blechbläser-Entladungen mischen sich im ersten Teil auch von Band zugespielte Chorpassagen.
    Live hinzu tritt wieder die Stimme von Graham Forbes Valentine, der nun kryptische Zauberformeln ausstößt. Am Ende des ersten Teils, der eine gute Stunde dauert, verendet der "schreiende Mann", wie er bei Rihm heißt, klangvoll aufheulend. Rihms Sehnsucht nach dem Entfesselten, "ganz Anderen", führte ihn in seiner "Tutuguri"-Musik zu einem exzessiven, zerklüfteten, mitunter auch dröhnenden musikalischen Ritual der Unmittelbarkeit.
    Dabei hat die so beschworene Irrationalität durchaus auch ihre problematische Seite. Schon Artauds zivilisationsfeindlicher Mexiko-Kult war mit seiner Vergötterung des guten Wilden von dumpfer Blut-und-Boden-Ideologie nur um Haaresbreite entfernt. Und der junge Rihm ließ sich davon zu einem brachial-vitalistischen, ja, schier vernichtungssüchtigen Stampfen und Toben hinreißen, das im zweiten und letzten Teil seines Werks in einer 30-minütigen Schlagzeug-Schlacht gipfelt.
    Eine gestochen präzise Aufführung
    Daniel Harding jedoch gelingt mit dem geradezu virtuosen Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks eine luzide und gestochen präzise Aufführung. Statt in Obskurantismus zu verfallen, bringt er diese Musik eher in einer vibrierenden Überwachheit zum Gleißen, als sich einer dumpf-brütenden Feier der Grausamkeiten hinzugeben.
    Mit welcher Exaktheit der rhythmischen und der dynamischen Gestaltung er in diesen Klangmassen waltet, ist bewundernswert. Die Scharounsche Philharmonie ist der ideale Saal, um dieses Werk als Klangplastik im Raum erklingen zu lassen. Vier Tamtams sind in den entlegensten vier Winkeln des Saales platziert; die zugespielten Chorpassagen brechen aus der Höhe auf das Publikum nieder.
    Und wenn sich am Ende nur noch die sechs fabelhaften Schlagzeuger auf der Bühne anschicken, auch noch das letzte Stückchen musikalisches Leben brachial zu Tode zu prügeln, dann ist das auch ein optisches Schauspiel – ein grausiges, freilich.