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Tuvia Tenenbom: "Allein unter Briten."
Die Engländer, mal nicht unter sich

Mit den Augen eines "Touristen vom Mars" hat der New Yorker Theatermacher und Journalist Tuvia Tenenbom das Leben im Vereinigten Königreich betrachtet. Er staunt über die Selbstverliebtheit der Engländer und den alltäglichen Antisemitismus.

Von Sigrid Brinkmann | 04.05.2020
Buchcover: Tuvia Tenenbom: „Allein unter Briten"
Buchcover: Tuvia Tenenbom: „Allein unter Briten" (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Hintergrund: AFP/Leon Neal)
Um die Geistes- und Gemütsverfassung einer Gesellschaft zu erforschen, gibt es für Tuvia Tenenbom kein geeigneteres Mittel als das Reisen. Dabei verlässt er sich bei der Routenplanung ganz auf Intuition und Tageslaune. Tenenboms Bewegungslust hat etwas Verschwenderisches, doch sie erweist sich als äußerst effizient. Soziale Gefälle im Land und Mentalitätsunterschiede werden durch den Zickzackkurs, den er einschlägt, augenfälliger. Um seinen Gesprächspartnern die Redehemmung zu nehmen, gibt der Entdeckungsreisende sich häufig andere Namen. Mal nennt er sich Tobias, mal -
"König Tabbas Abdul Rahman ibn Mohammed II., Adrian, Ahmad, Florian, Tuvia."
...und behauptet, er sei –
"Jordanier, Österreicher, Niederländer, Deutscher oder Amerikaner".
Jude, Moslem oder Protestant. Tenenbom hat mit Taxifahrern, Pizzalieferanten und Lords des britischen Oberhauses geredet, er hat Theater besucht, traf Fernsehprominenz, Kleriker, Buchhändler, Klempner und Leave-Demonstranten, sprach mit Soldaten, Müttern, Biertrinkern, Adligen und Verarmten über: den Brexit, Fußball, Religion, Gender und Sex. Eine Frage drängte sich bei der Recherche sehr bald in den Vordergrund:
"Warum legen die Menschen auf den Britischen Inseln solche Energie für den Konflikt zwischen Palästina und Israel an den Tag? Keine Ahnung!"
Schekel für die Bank of England
Nun, Großbritannien ist das Land, in dem die Kampagne, die den wirtschaftlichen und kulturellen Boykott Israels forciert, Wirkung zeigt. Sich ahnungslos zu stellen, gehört zum Prinzip des suchenden Reporters. Auch scheut er sich nicht, einfach nur zu fragen, wo man "gute und nette Menschen" treffen könne. Von einem "waschechten englischen Gentleman" wollte er wissen, warum der 11. November ein nationaler Feiertag ist.
"Um an die Gefallenen (des Ersten Weltkriegs) zu erinnern. Außerdem ist es gut für den Tourismus, so kommen Schekel in die Kasse."
Schekel? Sind Sie Jude? "Nein, ich bin Engländer." Warum haben Sie Schekel gesagt? George antwortet nicht, und ich kann keine Antwort für ihn geben. Aber mir ist schon öfter aufgefallen, dass manche das Wort Schekel verwenden, die israelische Währung, wenn sie über Geld sprechen, weil – wie wir alle wissen – die Juden gut mit Geld umgehen können.
George geht es finanziell ausgezeichnet, danke der Nachfrage."
Kein Mitleid mit den Bequemen und Mutlosen
Als Tuvia Tenenbom das Vereinigte Königreich im Winter 2018/2019 durchkämmte, druckte die Presse täglich neue Geschichten über den Antisemitismus in der Labour- Partei. Um herauszufinden, wie die Stimmungslage unter Juden im United Kingdom ist, suchte Tenenbom auch das Gespräch mit Studenten der Gateshead Jeshiwa. Sie ist die größte jüdische Hochschule in Europa.
"1190, so erzählen sie mir, sei die gesamte jüdische Gemeinde von York massakriert worden, einhundertfünfzig Menschen. Das Blutbad wurde unter der Bezeichnung "Pogrom von York" bekannt und hat an einem Ort stattgefunden, der lange Zeit Jewbury hieß und heute Clifford’s Tower genannt wird.
Jewbury. Judengrab. Was für ein Wort.
Die heutigen Juden, durch die ständigen Berichte über Antisemitismus in der britischen Labour Party beunruhigt, leben in Angst. Sie fürchten, erneut abgeschlachtet zu werden.
Und bis dahin essen sie furchtbares Essen, das wie eingeschlafene Füße schmeckt.
Tun sie mir leid? Überhaupt nicht. Sie könnten jederzeit die Insel verlassen, aber sie tun es nicht. "Das Leben hier ist bequem", sagen sie mir. Meiner Meinung nach brauchen sie einen Psychiater."
Der Oberrabbiner des Kingdom wich einer Begegnung mit Tenenbom aus. Das jüdische Parlamentsmitglied Louise Ellmann, gerade von Prinz Charles in den Adelsstand erhoben, empfing ihn zuhause in Liverpool. Ellmann, die seit Jahrzehnten Labour die Treue hält, wurde von Jeremy Corbyn wiederholt als "die ehrenwehrte Abgeordnete für Tel Aviv" angesprochen.
"Ich würde Sie gerne etwas fragen, sage ich zur Dame Commander, und bitte antworten Sie mit Ja oder Nein.
Sie lacht. Ist Jeremy Corbyn Antisemit, ja oder nein?
Ich sitze über eine Stunde mit ihr zusammen, und nicht einmal sagt sie, was sie denkt. Das ist umso bizarrer, als völlig offensichtlich ist, was sie denkt – ihr Mann hat es ausgesprochen. Aber sie will nicht. Keine Chance. Ich merke, es wäre einfacher, einen Hund dazu zu kriegen, Jiddisch zu sprechen, als eine Jüdin die Dinge beim Namen zu nennen."
Zu Tisch mit "Corbyns Vollstrecker"
Tenenbom geht die Mutlosigkeit jüdischer Briten auf die Nerven. Nach jeder Begegnung mit ihnen musste er sich bei einem guten Essen wieder in Schwung bringen. Und siehe da, der Zufall wollte es, dass er im Restaurant eines Fünf-Sterne-Hotels in Oxford, von Tisch zu Tisch, mit "Corbyns Vollstrecker" ins Gespräch kam. "Red Pete", wie sich der Mann aus dem Leitungsgremium der Labour-Partei nannte, war bereit, ein Interviewtreffen mit Jeremy Corbyn zu arrangieren. Doch ein erster Kontakt kam überraschenderweise früher zustande. Am Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar 2019, entdeckte Tenenbom den Widersacher im Queen Elizabeth II Centre gegenüber von Westminster Abbey.
"Er wird von zahlreichen Damen und zwei antizionistischen chassidischen Juden umringt, von denen einer ihn zur Toilette und zurück eskortiert. Er mag ein Heiliger sein, aber auch er muss pinkeln. Und wer wäre besser geeignet, ihm Erleichterung zu verschaffen, als ein antizionistischer Jude?
Jeremy Corbyn. Genau hier. Mir nicht von Red Pete, sondern von den Engeln des Holocaust auf dem Silbertablett serviert. (...)
Tja, was soll ich machen? Ich sehe JC tief in die Nase, um herauszufinden, ob sie ein wenig hakennasig ist, und stelle mich als deutscher Journalist vor.
Würden Sie mir ein Interview geben?, frage ich. "Das machen wir", antwortet er und schickt mich zu einer seiner Damen, die er als "extrem effizient. Sie ist so effizient wie die Deutschen" beschreibt.
Wir verstehen uns, Satan und meinereiner. Und wir plaudern ein wenig."
Und wir Leser betrachten ein Foto, das den Autor dicht an dicht mit Jeremy Corbyn zeigt. Tenenbom sieht vergnügt aus. Er hat einen Arm um die Schulter des Politikers gelegt. Corbyn zeigt ein schiefes Lächeln und zwinkert mit einem Auge. Wie Tenenbom das arrangierte Treffen mit dem Labour-Chef letztlich verpatzte, weil er – einen Moment unaufmerksam – in dessen Büro seine wahre Identität preisgab, ist eine Geschichte für sich. Er nahm die Fehlleistung nicht schwer. "Corbyns Vollstrecker" musste zahlen.
"Labour suspendiert das NEC-Mitglied Red Pete, nachdem dessen Gespräch mit mir öffentlich bekannt wurde."
Der Brexit als Offenbarung
Tenenbom hat Irland bereist, Schottland und Wales, wo Hass auf England traditionell verwurzelt ist. Dass viele Waliser sich der Armut und einem Leben in der Abgeschiedenheit ergeben, hat den New Yorker Autor zutiefst angerührt.
"Die Kluft (in der früheren Kupfermine) Parys Mountain ist ein Sinnbild der Kluft in London. (...) Der Riss durch die britische Gesellschaft geht tief und zwingt beide Seiten in Parallelwelten hinein, die in den kommenden Generationen nicht wieder zusammenwachsen werden; aber der Brexit hat den inneren Hass und die Feindseligkeiten nicht verursacht, er hat sie nur offenbart."
Tuvia Tenenbom erklärt nichts. Sein Buch zeigt Ungereimtheiten im Verhalten der Inselbewohner auf, Loyalitätskonflikte, begründete und irrationale Ängste, warmherzige wie hässliche Züge, einen tief sitzenden Antisemitismus und offenbar viel Selbstwertschätzung. Tenenbom, sarkastisch gelaunt, resümiert:
"Die Engländer, die mächtigste Nation auf der Insel, sind die größten Schauspieler auf dem Planeten, wenn auch nicht unbedingt auf der Bühne, und man kann darauf wetten, dass sie einen zum Narren halten. Es geht ihnen gut, besten Dank, und sie müssen niemanden heiraten. Sie werden es irgendwie schaffen, Kinder aus Bäumen zu schnitzen, keine Sorge."
Tuvia Tenebom: "Allein unter Briten."
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Karen Witthuhn.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
501 Seiten. 16,95 Euro.