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TweetUp im Landestheater Hildesheim
Der Nabel der digitalen Theaterwelt

TweetUps. Das sind Treffen, bei denen Enthusiasten des Kurznachrichten-Dienstes Twitter zusammenkommen - ja, um miteinander zu twittern. Was in Museen schon fast zur Normalität geworden ist, findet sich als Social-Media-Aktion in Theatern noch sehr selten - bis jetzt.

Von Christoph Ohrem | 11.07.2014
    Ein Mann öffnet auf seinem Smartphone seinen Twitter-Account.
    Ein TweetUp ist eine Art Rudeltwittern und auch alle, die nicht dabei sind, können mitlesen. (dpa / Andrew Gombert)
    Auf der Bühne beginnt mit der "Moritat von Mackie Messer" gerade Bertolt Brechts "Dreigroschenoper" in der Inszenierung von Bettina Rehm. In der letzten Reihe im Theater für Niedersachsen in Hildesheim sitzt mit blau erleuchteten Gesichtern eine Schar von Menschen und tippt eilig auf ihren Smartphones. Sie twittern, zum Beispiel über den Auftritt des pfeifenden Mackie Messers.
    Tweet Victor Pontes @victorp83: "Was ist hier los? Da läuft einer mit ner weißen Maske rum und pfeift."
    Hildesheim ist an diesem Abend der Nabel der digitalen Theaterwelt. Die engagierte Pressereferentin des Hauses, Christine Nitschke, hat zu einem TweetUp geladen, eine Art Rudeltwittern. Unter einem Stichwort, dem sogenannten Hashtag, kann online jeder mitlesen, was zu diesem speziellen Stichwort eingetragen wird und das dann an seine Bekannten teilen, die Reichweite vergrößern. Für Nitschke ist ein TweetUp ein spannendes Mittel der Theaterarbeit:
    "Für Leute, die sehr online-affin sind, hat es durchaus einen Mehrwert, weil sie Theater noch mal in einem anderen Medium erleben können. Ich habe das bei uns getauft. Blick hinter die Kulissen 2.0."
    Auch an großen Häusern hat man kaum Erfahrung mit TweetUps. Nachdem Nitschke die Theaterleitung überzeugt hatte, konnte sie viele an der Produktion der Dreigroschenoper Beteiligten dafür gewinnen, mitzutwittern. Darunter der Dramaturg, Reiner Müller, der bei dieser Idee sofort an Brecht gedacht hat:
    "Bei diesem Autor war ich sofort dafür, weil er hat immer alle Neuen Medien benutzt. Er hat Radio benutzt und Filme als Medium wie kein zweiter Autor. Ich glaub auch, dass er auf jeden Fall heute Twitter wäre. Er wollte die Nähe zum Publikum, das Publikum aktivisieren."
    Aktivisieren, eine Wortschöpfung Brechts. Kunst soll nicht nur als Distribution dienen, sondern Kommunikation sein. So viel zur Theorie. Und wie sieht die Praxis aus?
    Eindrücke werden online rege ausgetauscht
    Tweet Alexander Prosek (@AlexanderProsek: "Die leichten Damen chillen noch in der Kantine und warten auf ihren Auftritt. Smiley"
    Twitterte der Schauspieler Alexander Prosek mit einem entsprechenden Bild versehen aus dem Backstagebereich. Neben solchen Tweets der Theatermacher diskutierten und kommentierten die anwesenden Twitterer während der Aufführung über ihre Smartphones rege ihre Eindrücke miteinander. Zum Beispiel beim Auftritt der Bettler.
    Tweet Jan Fischer @nichtsneues: "Im Moment sieht es auf der Bühne ein bisschen aus wie ein Konzert der späten Guns n Roses."
    Der Ton ist lässig, Ironie erlaubt, vielleicht sogar erwünscht. Kommentare zur Inszenierung gibt es natürlich auch. So etwa als gegen Ende des Stückes überdeutlich inszeniert die große, goldene oscar-gleiche Justitia im Hintergrund entkleidet wird.
    Tweet Merlin Schumacher @popkalender: "Gerade wird die Gerechtigkeit abgehangen."
    Tweet Jan Fischer @nichtsneues: "Sehr symbolisch."
    Solche Spitzen finden sich häufig. Das macht den Beteiligten am Abend sichtlich Spaß. Wobei von außen ein dem TweetUp-Folgender bemängelt:
    "Hmm, so als nur Mitleser. Es fehlen mir eindeutig Smartphonebilder und nirgends Hinweise zur Musik und Weill?"
    Selbst wenn solche Wünsche erfüllt und Fragen beantwortet werden. Für die Inszenierung selbst bildet ein Event in dieser Form keinen Zugewinn. Dass auch Theatermacher aus dem Orchestergraben oder dem Backstagebereich mittwittern, ähnelt einem digitalen Tag der offenen Tür. Das führt im künstlerischen Sinn aber nicht zu Synergien zwischen twitterndem Publikum und Theatermachern vor, auf und hinter der Bühne. Der Mehrwert liegt letztlich im Rahmen der PR-Arbeit in einer gesteigerten Publicity.
    Um wirklich einen dramatischen oder dramaturgischen Mehrwert zu schaffen, müssen Theater-TweetUps anders eingebunden werden - mit echter Interaktion auf der Bühne etwa. Sonst handelt es sich letztlich um Nebenbeiunterhaltung auf einem Second Screen. Diese Unterhaltung zumindest hat im TFN sehr gut funktioniert.
    Tweet Bettina Stühmeier @bettystuehmeier: "Vielen Dank für ein tolles Experiment und den Mut dazu. Hat viel Spaß gemacht."
    Und schließlich muss man ja auch irgendwo anfangen.