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Typisch amerikanisch. Wie die Amerikaner wurden, was sie sind

In meinem Buch bin ich vorsichtshalber von außen nach innen gegangen. Ich habe also die Zwiebel, wie es sich gehört, von außen geschält und erst einmal die Mythen konstatiert, die man überall in den Geschichtsbüchern lesen kann, die man in der amerikanischen Gesellschaft im Grunde überall zu Gesicht bekommt, von diesen nationalen Mythen wie "manifest destiny" oder "In God we trust" ein Spruch, den man an jeder Tankstelle lesen kann.

Martina Groß | 21.01.2003
    Mit Hilfe zahlreicher Literaturquellen, wissenschaftlicher und belletristischer, nähert Gelfert sich den amerikanischen Mythen: "dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten", "der Unschuld - dem Weltkind Amerika", dem "Pursuit of Happiness - dem amerikanischen Traum". In dem sich, so Gelfert, die beiden Ur-Utopien der Menschheit, der ethische Traum vom gerechten Staat und dem hedonistischen vom Schlaraffenland miteinander versöhnen. Ein Traum, wie ihn Thomas Jefferson in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung einschrieb:

    Wir halten es für selbstverständliche Wahrheiten, dass alle Menschen gleich geschaffen sind und dass sie von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.

    Für die Berechtigung seiner Herangehensweise weist Hans-Dieter Gelfert auf Alexis de Tocquevilles "Über die Demokratie in Amerika" - veröffentlicht 1835 - hin, um festzustellen, daß die hier beschriebenen und charakterisierten Fäden im Grundgewebe des kollektiven Denkens bis heute noch in modifizierter Form anzutreffen sind. Die formenden Kräfte der amerikanischen Mentalität sieht Gelfert im bürgerlichen Emanzipationsstreben, das fast von Beginn an auf zwei ungleiche Wurzeln zurückgeht:

    die tiefsten Wurzeln, aus denen fast alles in der amerikanischen Mentalität gespeist wird, sind nun mal der Puritanismus und die Aufklärung. Auf diese Wurzeln führt so gut wie alles zurück. Sie wurden später modifiziert durch das romantische Gedankengut und durch gewisse politisch-geographische Gegebenheiten wie z.B. die Wendung nach Westen.

    Zu den Formkräften gehört für Gelfert ebenfalls der Begriff des "Frontier - die Selbstfindung Amerikas", die Konfrontation mit der Wildnis, dem wilden Westen, dem Raum, in dem die amerikanische Mentalität ihr spezifisches Ethos entwickeln konnte. Von den Mythen ausgehend, betrachtet Gelfert die obsessiven Motive der Populärkultur, wie sie vor allem in Literatur und Filmen ständig wiederholt, verfestigt und intensiviert werden. Sei es in der Aufdeckung der Wahrheit, der Zivilisationsflucht oder der Katastrophe als Herausforderung. Ein anderes Beispiel sind die unzähligen Gerichtsserien, in denen der einzelne Bürger gegen den Staat siegt.

    Die größte aller Obsessionen findet der Autor jedoch in der Obsession der Angst vor dem Bösen und dem Kampf gegen das Böse.

    Und das hat meiner Meinung nach etwas damit zu tun, daß Amerika als Gesellschaft und die Amerikaner als Individuen von Anfang vollkommen horizontal sozialisiert sind, während wir in Europa, obwohl wir uns inzwischen alle für gute Demokraten halten und sicherlich auch egalitär denken, während wir in Europa immer noch sehr stark durch die Jahrhunderte lange vertikale Tradition geprägt sind. Das heißt, wir denken von oben nach unten, die Amerikaner sehen horizontal. (...) Man muß den Gegner erst einmal in Augenhöhe bringen, um ihn bekämpfen zu können. Und das ist meiner Meinung nach, vielleicht die tiefste Wurzel für diese amerikanische Obsession mit dem Bösen.

    Das Bild Amerikas kann nicht ungebrochen sein, Paradoxien gehören dazu: Freiheitsliebe und moralischer Rigorismus, Gleichheit der Ungleichen, idealistische Materialisten, Friedliebende Krieger, Regierungsfeindliche Patrioten, Konservative Fortschrittsfanatiker, Hedonistische Asketen, Sexbesessenheit und Prüderie.

    Amerika lässt sich nur dann angemessen beschreiben, wenn man zu jeder Facette immer auch die paradoxe Gegenfacette zeigt. Wobei, was ich vorhin sagte, immer zu bedenken ist, daß diese Widersprüche auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen, so daß man nicht sagen kann, Amerika sei in sich zerrissen. (...) denn trotz aller Widersprüche findet man ja das typisch amerikanische überall in Amerika wohin man reist.

    Bei allen Widersprüchen sieht der Autor Amerika auf dem Systems des Gleichgewichts aufbauend, das - zumindest bislang - funktioniert hat.

    Am Ende ging es darum, ein Gleichgewicht herzustellen, und das halte ich für die spezifisch amerikanische Sozialstrategie: Gleichgewicht herzustellen. Wenn die eine Seite zu stark wird, dann neigt plötzlich die Mehrheit der Bevölkerung dazu, die unterlegene Seite zu stärken, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Nur, in dem Moment, in dem Amerika als Ganzes bedroht ist, angegriffen wird oder in irgendeiner Weise von außen herausgefordert wird, in dem Moment schweigt die Kritik oder tritt zumindest zurück und die Nation steht geschlossen hinter ihrer Führung. Das ist auch typisch amerikanisch.

    Ob sich die über die Jahrhunderte hinweg gewachsene Strategie Gleichgewichts in den USA auch in Zukunft behaupten wird, das bleibt zu hoffen.