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Typische Berliner Problem-Kinder

Güner Balci kümmerte sich früher als Sozialarbeiterin um Jugendliche arabischer Herkunft. Was sie in dieser Zeit erlebte, das hat sie in ihrem Buch "Arabboy" zusammengefasst. Alle geschilderten Ereignisse im Leben des Rashid A., den Sohn libanesisch-palästinensischer Eltern, habe sie als Sozialarbeiterin wirklich mitverfolgt. Für das Buch aber hat sie den Hauptpersonen neue Namen gegeben und die Ereignisse neu arrangiert. Jens Rosbach hat es gelesen.

    "Ja, na klar geht man auch auf Schulen und schlägt man sich dort mit anderen Jungs.

    Ja, und dann gehen wir hin und dann prügeln wir uns halt mit denen.

    Mit Messer und solch anderen Sachen.

    Messer, Schreckschusswaffen, alles Schlagring.

    Da bekommt man auch viele Probleme auch zu Hause, auch mit der Polizei.

    Hab' ich eine Anzeige wegen illegalen Waffenbesitzes und Widerstand gegen Polizei oder Staatsbeamten, ja."
    Typische Berliner Problem-Kinder. Türkisch- und arabischstämmige Schüler aus Arbeitslosen-Familien. Teenager, die mit der Gewalt groß geworden sind. Wie Rashid A. - die Hauptperson des Buches "Arabboy".

    Rashid und seiner Mutter Leila war das Blut aus der Nase gelaufen, so hart hatte der Vater zugeschlagen, immer wieder. Seine Augen waren weit aufgerissen und rot vor Zorn gewesen, sein Gesicht grimmig verzogen. "Ihr Ungläubigen, wollt ihr mein Verderben sein?", hatte er geschrien, ausgeholt und mit dem Lederriemen das Fleisch der Mutter getroffen. Klatsch, klatsch, klatsch.
    Rashid, Sohn libanesisch-palästinensischer Migranten - wächst in Berlin-Neukölln auf, in einem herunter gekommenen Ausländer-Viertel. Seine muslimischen Eltern führen ein zurück gezogenes, liebloses Eheleben und prügeln ihre Kinder. Rashids Freunde von der Straße verachten die Deutschen, lachen über die Lehrer, klauen und vergewaltigen. Und bald schon findet auch der 17-Jährige Gefallen daran, andere zu beherrschen. Etwa den neunjährigen Musim.

    Er gab ihm ein paar schallende Ohrfeigen, doch Musim rührte sich nicht, nur Tränen rollten ihm die Wangen hinunter. Es blieb nicht bei zwei Ohrfeigen. Rashid demütigte den Kleinen und zwang ihn zu sexuellen Handlungen. Rashid fühlte sich als Sieger, er hatte getan, was er wollte, und niemand hatte ihn daran gehindert.
    Rashid macht schnell Karriere - kriminelle Karriere. Für einen Unterweltboss, einen "Mega-Checker", knöpft er Prostituierten das Geld ab. Er wird drogenabhängig, landet im Knast und wird abgeschoben. Schließlich endet der Berliner Jugendliche als Wasserleiche in der türkischen Ägäis.

    "Tatsache sind all die Begebenheiten, wo einem der kalte Schauer über den Rücken läuft. Also alles, was die Leser schockiert, ist auch tatsächlich passiert."
    Güner Balci ist 33 Jahre alt und ZDF-Redakteurin. Die türkischstämmige Autorin ist selbst in einem Problem-Kiez in Berlin-Neukölln aufgewachsen. Als Jugendliche - und später als Sozialarbeiterin - erlebte sie hautnah die beängstigende, brutale Szene der Intensivtäter. In dem Jugendclub, in dem sie arbeitete, ging es oft heiß her.

    "Dann hatte ich eine ganz schlimme Situation, wo sich zwei Brüder in der Einrichtung die Köpfe einschlugen und der eine dann plötzlich mit einem Riesenküchengerät, einem super schweren Küchengerät auf den Bruder zuging und ihm das auf den Kopf knallen wollte. Also ich glaube, wenn er das gemacht hätte, dann wäre der irgendwie, keine Ahnung, behindert heute. Und dann bin ich mit einem Billardqueue dazwischen und hab dem diesen Queue tatsächlich in die Rippen gerammt. Und der hat dann davon abgelassen. Also das war aber Glück. Ich meine, genauso gut hätte ich das Küchengerät abbekommen können."
    Die Hauptfiguren des Buches hat es tatsächlich gegeben, allerdings wurden Namen, Orte und einige Episoden verändert - auch um die Protagonisten zu schützen. Vor allem die Opfer, unter ihnen viele Frauen. Rashids Gang versucht möglichst viele Mitschülerinnen ins Bett zu kriegen, obwohl die Religion der Eltern dies verbietet. Gleichzeitig beschimpfen die Jungs alle Mädchen, die keine Jungfrauen mehr sind, als "unrein" und als "Schlampen". Gemäß den Familien-Traditionen ist für sie allein schon erotische Kleidung "haram", also tabu.

    "Du Schlampe, trägst Tangas! Du bist eine Nutte". Rashid hatte beim Durchsuchen der Schränke seiner Schwestern auch die Unterwäsche inspiziert und war dabei auf Dessous gestoßen, die er sonst nur an den Frauen im Bordell kannte. "Hör auf Junge, hör auf!", schrie seine Mutter unter Tränen auf Arabisch. "Du bist schuld", schrie Rashid zurück. Du hast sie so erzogen, deine Töchter sind Huren, sie tragen Nuttenwäsche! Was bist du für eine Mutter!

    "Arabboy" beschreibt schonungslos, wie Mädchen in einem Keller vor laufender Handykamera zum Sex gezwungen werden. Und wie die Jungs diese Szenen anschließend im Internet verbreiten. Für die Autorin Güner Balci war es nicht einfach, diese Geschichten zu Papier zu bringen.

    "Ich habe diese Mädchen gekannt. Und ich konnte denen nie helfen. Und ich wusste auch gar nicht, wie ich damit umgehen soll. Also das waren Mädchen, die sich da haben zerstören lassen. Und wenn man dann versucht, sich in so eine Person hineinzuversetzen, dann habe ich auch manchmal gedacht: So jetzt mach ich erstmal zwei Tage eine Pause, weil das war mir jetzt wieder zzu viel Brutalität und Gewalt, und ich war jetzt wieder zu lange in diesem Keller - und ich will jetzt erstmal abschalten."
    Güner Balcis Buch ist wie ein Blick durch ein Schlüsselloch, es gewährt eine Sicht auf eine unbekannte, kriminelle Parallelgesellschaft. Nicht die Fakten an sich, sondern die Art und Weise, wie in der Szene gesprochen, gedacht und sich wichtig gemacht wird, ist für den Leser neu. Allerdings bleibt eine große Distanz zu den literarischen Figuren. Allzu deutlich ist der Blick von außen. Negativ-Held Rashid wird auch nicht in der Ich-Form dargestellt.

    "Ich habe drei Jahre überlegt, wie ich das in Worte fasse. Und ich habe von der Ich-Form abgesehen, weil mir das zu nahe gegangen wäre. Das war der Grund."
    Es scheint, als hätte Balci nicht genug Abstand zu den vielen erschreckenden Geschichten gehabt und deshalb eine überdistanzierte Form gewählt. So wirkt das Buch wie eine Dokumentation, die mit Action-Szenen angereichert wurde. Eine Art literarischer Dokusoap, die weder die Detailschärfe einer Reportage hat, noch die Poesie eines Romans. Die Sprache pendelt dementsprechend zwischen deftigen Fäkal-Zitaten, hölzernen Vokabeln wie "Strafmündigkeit" sowie zahlreichen Sprachklischees: In Arabboy schnürt "Wut die Kehle zu", "klopft das Herz bis zum Hals", "hagelt es Schläge" und "klappern Zähne vor Kälte". Güner Balci fehlen die passenden Worte für den brisanten, bedrückenden Stoff.

    Jens Rosbach über: Güner Balci: arabboy: eine Jugend in Deutschland Oder. Das kurze Leben des Rashid A. Das Buch ist im S. Fischer Verlag erschienen, hat 288 Seiten und kostet 14,90 Euro.