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Udo Kempf, Hans-Georg Merz: Kanzler und Minister 1949 -1998

Ein Lexikon, das es bislang noch nicht in irgendeiner Form gibt, neu auf den Markt zu bringen - das ist schon eine Seltenheit. Den beiden Wissenschaftlern Udo Kempf und Hans-Georg Merz ist dies gelungen. In ihrem biographischen Lexikon werden zum ersten Mal alle Mitglieder der Bundesregierungen von 1949 bis 1998 vorgestellt. Der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher nennt es "lebendige Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für ihn ist es ein "verdienstvolles und, wie man hoffen darf, zur Diskussion und wissenschaftlichen Vertiefung anregendes Werk". Peter Jansen hat es gelesen:

Peter Jansen | 28.05.2001
    Wer kann sich wohl noch an Waldemar Erich Kraft erinnern? Wem sagen die Namen von Siegfried Balke, Anton Storch oder Franz-Josef Wuermeling etwas? Selbst Ursula Lehr ist heute nur noch Wenigen bekannt, obwohl die aus Frankfurt stammende Professorin für Psychologie und Philosophie bis vor zehn Jahren Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit war. Auch die Anderen waren in ihrer Zeit durchaus prominent, gehörten zur politischen Elite der Bundesrepublik Deutschland in den 50er und 60er Jahren. Sie sind Mitglieder des erlauchten Kreises von insgesamt nur 157 Frauen und Männern, die in den ersten fünf Jahrzehnten der Bonner Republik ein Ministeramt innehatten. Kraft, ein in der Provinz Posen geborener Agrarlobbyist, war im zweiten Kabinett Konrad Adenauers Bundesminister für besondere Aufgaben und einer der einflussreichsten und erfolgreichsten Interessenvertreter der Vertriebenen. Balke gehörte dem Bundeskabinett von 1953 bis 1962 an, zunächst als Post-, später von 1956 bis 1962 als Atomminister. Ihm verdanken wir, wie sein Biograf, der Freiburger Politikprofessor Udo Kempf schrieb, die hässlichsten Sondermarken der Bundespost. Anton Storch, ein linker Christdemokrat aus dem katholischen Fulda, saß von 1949 bis 1957 auf dem Stuhl, auf dem später Hans Katzer, Norbert Blüm und jetzt Walter Riester die Fäden in der Arbeits- und Sozialpolitik zogen. Er hat die große Rentenreform von der 50er Jahre maßgeblich betrieben, die die Höhe der Altersrenten an das Lohnniveau koppelte. Franz-Josef Wuermeling schließlich war das erste Kabinettsmitglied, der ein speziell mit Familienfragen betrautes Haus führte. Der kämpferische Katholik ist der Urheber des Kindergelds und zahlreicher weiterer Vergünstigungen für Familien. Die Freiburger Politikwissenschaftler Kempf und Hans-Georg Merz haben jetzt erstmals die Namen aller Ministerinnen und Minister seit Gründung der Bundesrepublik der Vergessenheit entrissen und in einem Lexikon der deutschen Bundesregierungen die Biografien und wichtigsten Leistungen aller Kabinettsmitglieder zusammengefasst. Ein Nachtrag mit den bereits ausgeschiedenen Mitgliedern der ersten rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder ist in Arbeit.

    Den Biografien der 157 Ressortchefs ist ein umfassender statistischer Teil vorangestellt. Da erfährt man beispielsweise, dass Konrad Adenauer bei seinem Amtsantritt mit 73 Jahren das älteste Mitglied aller Regierungen war, die damals gerade 28jährige Claudia Nolte ist das bislang jüngste. Sie war von Kohl 1994 nicht nur zur Ministerin für Frauen und Jugend, sondern auch für Senioren ernannt worden. Interessant sind auch Kempfs Erhebungen über Rücktritte.

    Die Zahl der Affären, die zum Rücktritt von Ministern führte, ist, gemessen an der Gesamtzahl aller Kabinettsmitglieder, relativ gering. Auffallend ist die Häufung bei den Verteidigungsministern: So trat Franz Josef Strauß Ende 1962 wegen der "Spiegel-Affäre" zurück. Georg Leber übernahm im Februar 1978 die politische Verantwortung für illegale, vom Militärischen Abschirmdienst durchgeführte Abhörmaßnahmen. Rupert Scholz musste nach zwei von alliierten Flugzeugen verursachten Katastrophen sowie infolge seiner unglücklichen Reaktion auf die sehr emotionale öffentliche Debatte über Tiefflüge sein Amt als Verteidigungsminister zur Verfügung stellen

    Die Verfasser der 157 Einzelbiografien sind in der Regel Politikwissenschaftler aus Universitäten und Hochschulen, aber es finden sich auch einige Journalisten und Ministerialbeamte darunter. Von einer Verklärung der Beschriebenen sind sie weit entfernt, nüchtern und sachlich zeigen sie nicht nur die Erfolge, sondern auch die Schattenseiten der politischen Elite auf. So schreibt der Regensburger Professor und stellvertretende Direktor des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, Udo Wengst über den kämpferischen ersten deutschen Justizminister Thomas Dehler von der FDP:

    Dehler hat wie kein zweiter Minister im ersten Kabinett Adenauer in der öffentlichen Kritik gestanden. Ausgelöst wurde diese stets durch Reden, in denen der Justizminister Gewerkschaften, Kirchen oder aber Parteien wie die SPD bzw. die CDU und CSU angegriffen hatte. Anstößig war dabei immer die Wahl der Worte und die Heftigkeit der jeweiligen Attacke. Verschärft wurde die Problematik von Dehlers Reden schließlich noch dadurch, dass dieser nicht selten gezwungen war, sich im Nachhinein von seinen Auftritten zu distanzieren, das er sich in der Hitze des Gefechts zu Äußerungen hatte hinreißen lassen, die bei nüchterner Betrachtung nicht haltbar waren

    Über Gerhard Schröder, einen der wichtigsten CDU-Politiker in den 50er und 60er Jahren, der 17 Jahre verschiedenen Regierungen unter Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt-Georg Kiesinger angehörte und das Innen-, das Außen- und das Verteidigungsministerium leitete, heißt es in der von Torsten Opelland, Privatdozent an der Uni Jena, verfassten Kurzbiografie:

    Schröder war, wie sich bald herausstellte, trotz seiner erfolgreichen Anfänge als Parlamentarier ein ausgesprochener Mann der Exekutive. Der Vorwurf, Regierungspartei und -fraktion zu vernachlässigen, sollte ihn auf allen ministeriellen Stationen begleiten. Hier lag zweifellos neben der mangelnden Hausmacht ein Grund dafür, dass er beim Sprung ins Kanzleramt letztlich scheiterte

    Nicht weniger kritisch geht Werner Billing, Politikprofessor an der Universität Kaiserslautern, mit Horst Ehmke um, der Allzweckwaffe der ersten sozialdemokratisch geführten Bundesregierung unter Bundeskanzler Willy Brandt. Er schreibt über Ehmke, den Brandt zum Bundesminister für besondere Aufgaben berufen hatte und der von 1969 bis 1972 das Bundeskanzleramt zu einer modernen Regierungszentrale umbauen wollte:

    Zumindest vier Probleme zeichneten sich sehr bald ab. Erstens ließ die Reform des Regierungsapparates den Eindruck entstehen, dass sie ganz auf den Kanzleramtsminister zugeschnitten sei. Zweitens war sehr bald ersichtlich, dass das eigentliche Planungsziel; die Verbindung von globaler Aufgaben- und Ausgabenplanung, nicht erreicht werden konnte. Drittens erlag Ehmke der Fehleinschätzung, die Koalition zu einem dauerhaften, historischen Bündnis formen zu können. Viertens führte die Gestaltung des Bundeskanzleramts mit einem Minister an der Spitze vermehrt zu öffentlich ausgetragenen Konflikten zwischen dem Kanzleramt und den Ressorts

    Das in dieser Form einmalige Kanzler- und Ministerlexikon ist ein gut gemachtes, leicht lesbares Nachschlagewerk über die Frauen und Männer, die die ersten fünf Jahrzehnte deutscher Nachkriegsgeschichte maßgeblich mit geprägt haben. In Redaktionen, Universitäten und Büchereien kann es gute Dienste leisten. Der politisch interessierte Durchschnittsbürger wird sich die Anschaffung allerdings zwei Mal überlegen: 98 Mark sind für ein solches Buch, dessen Autoren keinen Pfennig Honorar erhielten, ein stattlicher Preis.

    Soweit Peter Jansen über das biographische Lexikon der deutschen Bundesregierungen mit dem Titel: Kanzler und Minister 1949 - 1998. Herausgeber des im Westdeutschen Verlag Wiesbaden erschienen Buches sind Udo Kempf und Hans-Georg Merz. Kostenpunkt - wie bereits erwähnt - 98 Mark.