All dies ist Pierre Bourdieu ein Greuel. Zwar schimmert noch der Wunsch nach emanzipierten Staatsbürgern in seinen Reden durch, doch das scheint Camouflage. In der Hauptsache geht es um den eigenen Bedeutungsverlust. Das Fernsehen hat das neue Paradigma der unaufhörlichen Einmischung etabliert. Seine Macht liegt in seiner Bedeutungskompetenz – wen es zu Schirm bittet, dessen Ansehen steigt; ganz gleich, ob die mediale Präsenz für sein Aufgabenfeld von Bedeutung ist. Während die Naturwissenschaften sich noch auf harte Fakten und geschlossene Denkräume zurückziehen können, untergräbt die Bedeutungsmacht der Medien immer rasanter die Standesordnungen der Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Eintrittspreis, so Bourdieu, sinke beständig, bald werde die akademische Elite durch Talkshowratings ermittelt. Elite – wohl das Reizwort, um dessentwillen Bourdieu so viel Aufmerksamkeit in seinem Heimatland erfuhr. In Frankreich ist man entweder vehement dafür oder vehement dagegen – ganz anders als hierzulande, wo schon die Erwähnung als Tabubruch gilt. Doch seine Position ist durchaus wankend. Einerseits beschimpft er prominente Intellektuelle, sich zu Sklaven des medialen Systems zu machen – Standesverrat, hört man zwischen den Zeilen durch –, andererseits sympathisiert er mit jenen politischen Kräften, die das elitäre Bildungssystem der Franzosen für obsolet halten. Während er eine "reine" Sozialwissenschaft erträumt – ein zutiefst reaktionärer Wunsch –, verlangt er von den kapitalistischen Medien demokratische und emanzipatorische Zugeständnisse.
Wenn kluge Menschen sich verheddern, sagen sie gerne: Ich kann hier nicht so präzise sein, wie es meine intellektuelle Redlichkeit gebietet. Dagegen läßt sich bei einem Fernsehvortrag schwer argumentieren; die Unschuldsvermutung überwiegt den Verdacht der schlampigen Gedankenführung. Dennoch bleibt, was Bourdieu inhaltlich zu sagen hat, in der zweiten Liga stecken. Er kocht eine seltsame Melange zwischen dem moralischen Tremolo eines Neil Postman und der Wiederbelebung des Horkheimerschen "Kulturindustrie"-Begriffs auf. Obwohl sich Bourdieu für seine Verhältnisse um Verständlichkeit bemüht, bleibt er im grauen Niemandsland zwischen Fachsprache und intellektuellen Worthülsen stecken. Da wächst einem Fehler seines deutschen Übersetzers Achim Russer geradezu entlarvende Qualität zu. Im dankenswerterweise beigegebenen Personenverzeichnis lesen wir über Bourdieus Gegner Jacques Attali, er sei ein "Polygraph", will sagen: ein Vielschreiber. Tatsächlich bezeichnet das Wort einen kleinen Kasten mit mehreren Anschlußkabeln, den man aus amerikanischen Polizeifilmen kennt: den Lügendetektor. Merke: Nicht alles, was geheimnisvoll funkelt, ist gleich Soziologie.