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Über das Fernsehen

Man stelle sich folgendes Setting vor: Ein berühmter Soziologe, intellektuelle Ikone seines Landes – dort eher dem linken Flügel zugeordnet – hält zwei Vorträge übers Fernsehen. Weil er spitzfindig ist, praktiziert er den Doppelsinn: Er äußert sich nicht nur inhaltlich, er redet zugleich übers Fernsehen, also via Sendung. Der Vortragende nennt Roß und Reiter, und seine sozialwissenschaftlich verbrämten Ausführungen erweisen sich binnen Minuten als Brandrede, ja nachgerade als Aufruf zum Abschalten. Es schaltet aber niemand ab, im Gegenteil, die Nation hört gebannt zu, vor allem die öffentlich Gescholtenen, und es entbrennt, was die französische Intelligenz am liebsten mag: ein feuriger Schlagabtausch. Die Buchfassung der Vorträge stürmt die Bestsellerlisten und spaltet wiederum die Nation: Ist da a) ein Nestbeschmutzer am Werk, oder b) jemand, der endlich die Wahrheit sagt? Aus der Ferne freilich, von jenseits des Rheins, nimmt sich das Ganze ein wenig wunderlich aus. Denn Pierre Bourdieu tappt genau in die Falle, die er wortmächtig anprangert. Das Fernsehen frißt Gedanken. Wer sich der Mattscheibe bemächtigt, wird selber matt.

Florian Felix Weyh |
    Pierre Bourdieu ist ein berühmter Mann. Unlängst hat er den hiesigen Bloch-Preis erhalten, seine intellektuelle Präsenz in den wichtigen Publikationsorganen ist erdrückend, und gäbe es einen Soziologie-Nobelpreis, rangierte er seit Jahren unter den Anwärtern. Doch Bourdieu leidet. Wie seinem Kollegen Richard Sennett ist auch ihm aufgegangen, daß der Nimbus seiner Wissenschaft von Jahr zu Jahr schwindet, ja die Wissenschaft der sozialen Beziehungen generell bedroht scheint. Der Feind heißt "Medienphilosophie" und ist jedem zugänglich, der übers Glotzen das Formulieren noch nicht verlernt hat. Während die Soziologie, das betont Bourdieu immer wieder, eine erbsenzählerische Genauigkeitsdisziplin ist (deren Ergebnisse freilich selten verblüffen), kann sich auf den Feldern der Medienphilosophie jeder beliebige Scharlatan tummeln. Medien – zumal Bildermedien – sind eine ideale Projektionsfläche fürs Magische, da bleiben qualitative Methoden außen vor. Bittere Ironie: Gerade das von Bourdieu zu Recht als scheindemokratisch gegeißelte Instrument der Einschaltquotenermittlung stellt die Kontrollutopie der angewandten Sozialwissenschaft vom Kopf auf die Füße.

    All dies ist Pierre Bourdieu ein Greuel. Zwar schimmert noch der Wunsch nach emanzipierten Staatsbürgern in seinen Reden durch, doch das scheint Camouflage. In der Hauptsache geht es um den eigenen Bedeutungsverlust. Das Fernsehen hat das neue Paradigma der unaufhörlichen Einmischung etabliert. Seine Macht liegt in seiner Bedeutungskompetenz – wen es zu Schirm bittet, dessen Ansehen steigt; ganz gleich, ob die mediale Präsenz für sein Aufgabenfeld von Bedeutung ist. Während die Naturwissenschaften sich noch auf harte Fakten und geschlossene Denkräume zurückziehen können, untergräbt die Bedeutungsmacht der Medien immer rasanter die Standesordnungen der Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Eintrittspreis, so Bourdieu, sinke beständig, bald werde die akademische Elite durch Talkshowratings ermittelt. Elite – wohl das Reizwort, um dessentwillen Bourdieu so viel Aufmerksamkeit in seinem Heimatland erfuhr. In Frankreich ist man entweder vehement dafür oder vehement dagegen – ganz anders als hierzulande, wo schon die Erwähnung als Tabubruch gilt. Doch seine Position ist durchaus wankend. Einerseits beschimpft er prominente Intellektuelle, sich zu Sklaven des medialen Systems zu machen – Standesverrat, hört man zwischen den Zeilen durch –, andererseits sympathisiert er mit jenen politischen Kräften, die das elitäre Bildungssystem der Franzosen für obsolet halten. Während er eine "reine" Sozialwissenschaft erträumt – ein zutiefst reaktionärer Wunsch –, verlangt er von den kapitalistischen Medien demokratische und emanzipatorische Zugeständnisse.

    Wenn kluge Menschen sich verheddern, sagen sie gerne: Ich kann hier nicht so präzise sein, wie es meine intellektuelle Redlichkeit gebietet. Dagegen läßt sich bei einem Fernsehvortrag schwer argumentieren; die Unschuldsvermutung überwiegt den Verdacht der schlampigen Gedankenführung. Dennoch bleibt, was Bourdieu inhaltlich zu sagen hat, in der zweiten Liga stecken. Er kocht eine seltsame Melange zwischen dem moralischen Tremolo eines Neil Postman und der Wiederbelebung des Horkheimerschen "Kulturindustrie"-Begriffs auf. Obwohl sich Bourdieu für seine Verhältnisse um Verständlichkeit bemüht, bleibt er im grauen Niemandsland zwischen Fachsprache und intellektuellen Worthülsen stecken. Da wächst einem Fehler seines deutschen Übersetzers Achim Russer geradezu entlarvende Qualität zu. Im dankenswerterweise beigegebenen Personenverzeichnis lesen wir über Bourdieus Gegner Jacques Attali, er sei ein "Polygraph", will sagen: ein Vielschreiber. Tatsächlich bezeichnet das Wort einen kleinen Kasten mit mehreren Anschlußkabeln, den man aus amerikanischen Polizeifilmen kennt: den Lügendetektor. Merke: Nicht alles, was geheimnisvoll funkelt, ist gleich Soziologie.