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Über das Verschwinden von Orten und Menschen

Die 1974 geborene Schriftstellerin Julia Schoch hat sich mit kurzen Romanen und Erzählungen einen Namen gemacht. In ihrem neuesten Roman geht es um ein Frauenschicksal in der ostdeutschen Provinz. Eine tragische Geschichte, die vom Untergang der DDR erzählt und davon, was passiert, wenn die Freiheit plötzlich zu groß erscheint und die Wünsche zu klein.

Von Ralph Gerstenberg | 09.03.2009
    Ein Ort irgendwo am Stettiner Haff. Die polnische Grenze ist nicht weit. In der Nähe befindet sich ein Militärgelände. Das ist die Gegend, in der Julia Schoch ihren Roman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" angesiedelt hat. Nach Mauerfall und Wiedervereinigung hat der Ort seine Existenzgrundlage verloren. Diejenigen, die konnten, sind weggezogen, die ehemals begehrten Plattenbauten wurden abgerissen, Unkraut sprießt aus betonierten Straßen. Der Heimatverlust, den Julia Schoch aus eigener Erfahrung kennt, wurde für die 34-jährige Autorin zum Schreibanlass.

    "Und zwar, dass der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, eine Kleinstadt in Mecklenburg, dass der verschwunden ist. Also der ist unter den Bedingungen des Kalten Krieges, kann man ja jetzt schon sagen, entstanden. Da wurde Militär angesiedelt. Und der ist nach 1989, also nach Ende des kalten Krieges, wieder eingegangen, zurückgeschrumpft. Und dadurch, dass ich da gewohnt habe, bin ich da natürlich auch später noch öfter hingefahren und habe das so nach und nach miterlebt, wie dieser Ort also wieder eingegangen ist. Dann hab ich angefangen zu schreiben und habe gemerkt, dass mich das sehr viel mehr beschäftigt als ich dachte, also dass mich das auch sehr angegriffen hat, dass da ganz speziell mein Kindheitsort so verschwunden ist."

    Im Zentrum des Romans steht eine Frau, die in dieser Gegend aufgewachsen ist. Vor 1989 war ihr Leben klar strukturiert, ihre Biografie vorhersehbar: Schule, Beruf, Hochzeit, Kinder. Vielleicht hätte die Anstellung des Mannes einen Umzug nach Berlin erfordert. Eventuell hätte sie als Dekorateurin die Schaufenster im Zentrum der Hauptstadt ausgestaltet. Größere Ereignisse waren jedoch nicht zu erwarten gewesen. Doch nach dem Mauerfall, "der Revolution", wie es in Julia Schochs Roman heißt, war auf einmal alles anders.

    Die neuen Verhältnisse: Der Ehemann bekam in der Kreisstadt das Optikergeschäft der Familie zurück. Die Leute fingen an, sich gegenseitig zu einem Arbeitsplatz zu beglückwünschen. Man hielt fest, was man bekam. Die Mienen wurde wieder verhuschter, die Gesten misstrauisch. Niemand redete mehr von Blöcken oder heißen und kalten Kriegen, davon, eine Sache zu verteidigen oder sich ihr zu verweigern. In einem solchen Moment wird alles klar erkennbar. Die Menschen treiben als Teile einer unförmigen Masse auf die immergleiche Weise durch die Geschehnisse der Geschichte, werden mitgerissen, gehen manchmal ein Stück allein, um wieder in eine andere Richtung gespült zu werden.
    Die Frau verlässt den Ort ihrer Kindheit und zieht mit ihrer Familie in ein Einfamilienhaus. Äußerlich führt sie ein erfülltes Leben, organisiert den familiären Alltag, kleidet sich für die provinziellen Verhältnisse extravagant und denkt über die Einrichtung des Hauses nach. Doch immer wieder behält sie einen ironischen Abstand zu den Dingen, die sie tut. Als könnte sie sich damit nicht identifizieren. Im Gegensatz zu früher erscheint die Welt nun voller Möglichkeiten, und sie begreift, wie klein ihre Träume gewesen waren.

    "Ich glaube, dass ja viele gemerkt haben, dass das, was sie da wollten, das wurde relativ rasch erfüllt, weil es die freie und offene Gesellschaft, die ja im Westen schon geherrscht hat, das relativ unspektakulär erfüllen konnte, also ein paar Reisewünsche oder ein wenig Abwechslung im Alltag oder eine freie Wahl über das, was man aus seiner Biografie macht. Eben das, was im Westen immer selbstverständlich war, wurde dann eben unspektakulär erfüllt. Und das ist dann die Frage: Wenn das dann geschafft ist, was ja relativ schnell zu machen ist, wenn das dann da ist, was macht man dann?"

    Das Jahr war eine lange Schnur, an der man sich von Fest zu Fest hangelte, was hieß: von Verpflichtung zu Verpflichtung. Die Schulversammlungen und politischen Abende der alten Zeit waren abgelöst worden von neuen Zusammenkünften. Spieleabende, Sportlertreffen, Bierabende.
    Mit dieser anderen Geschichte hatte auch eine andere Geschwindigkeit der Zeit eingesetzt. Vor allem für die, die sich nicht von der Stelle rührten. Wann hatte das angefangen, dieses Rasen der inneren Uhr? Wann war aus dem irren Lauf in die offene Zukunft, die Unbegrenztheit, wie es hieß, dieser Galopp auf der Stelle geworden, bei dem man sich eingrub?

    Julia Schoch lässt ihre Geschichte von der jüngeren Schwester der Frau erzählen, die - das erfährt man bereits zu Beginn des Buches - sich in New York das Leben genommen hat. Um die Umstände zu verstehen, die zu dieser Tat geführt haben, wird in kurzen Sätzen und Abschnitten die Biografie der Selbstmörderin rekonstruiert. Wie aus Mosaiksteinen setzt sich das Bild einer Frau zusammen, die nach 1989 mit der neuen Freiheit nichts anzufangen wusste. Politische oder journalistische Begriffe vermeidet Julia Schoch. In der Sprache ihres Buches existieren weder Ost noch West, keine DDR oder BRD, weder Wende noch Mauerfall. Sie ist um Allgemeingültigkeit bemüht und dennoch hochpräzise. Ihre Figuren sind namenlose Archetypen: Mann, Frau, Schwester. Und dann gibt es noch einen Soldaten, mit dem die Frau vor dem Ende der alten Ordnung eine erotische Affäre hatte. Nach vielen Jahren steht er plötzlich wieder vor der Tür.

    "Es gibt diese Urszene, dass er wiederkommt nach all den Jahren, also er kommt das erste Mal wieder an diesen Ort, an dem er mal stationiert war, begegnet dieser alten Liebe wieder, die ja eigentlich nur eine recht harmlose Jugendliebe war, und schiebt diese Schwester ins Haus hinein, und dann beginnt diese Liebesgeschichte wieder. Das ist eigentlich die Urszene, von der aus das Erzählen immer wieder losgeht."

    Der Soldat gibt der Frau das Gefühl, in die alte Zeit wieder eintauchen zu können. Sie besucht mit ihm den inzwischen von Abriss und Verfall gezeichneten Ort ihrer Kindheit. Doch abgesehen von Erinnerungen und Wiederholungen gibt es nichts, woran sie anknüpfen kann. Die Vergangenheit ist im Begriff sich aufzulösen, eine gemeinsame Zukunft undenkbar und die Gegenwart geprägt von dem Gefühl der Nutzlosigkeit. Ein schäbiges Hotelzimmer, in das sich das heimliche Liebespaar zurückzieht, wird zur Abschiedskulisse. Die Frau beschließt, dieses Land und dieses Leben zu verlassen. Sie reist an den Ort der Sehnsucht schlechthin, sie fliegt nach New York.

    "Sie trifft eine Entscheidung, die nur ihr selbst gilt, indem sie diese Reise ganz allein tut. Das hat sie ja vorher nie gemacht. Insofern ist das ja auch eine Emanzipationsgeschichte. Also das ist ihre persönliche Auslegung von Freiheit. Sie nimmt sich die Freiheit, genauso zu verschwinden wie dieser Ort, der ihr genommen wird."

    "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" ist ein hochkonzentriertes Buch über das Verschwinden von Orten und Menschen. Julia Schoch nutzt die ureigenen Mittel der Literatur, um vom Prozess des Scheiterns zu erzählen: die Sprache und die Vorstellungskraft. Wie die Schwester der Hauptfigur versucht sie sich die Wirklichkeit damit zu erschließen. Das gelingt vor allem deshalb, weil Julia Schoch ihre literarischen Mittel äußerst sparsam und bewusst einsetzt. Ihre Bilder und Sätze erzeugen eine Atmosphäre, die das scheinbar objektive mediale Flackern von Fakten und Ereignissen wie simple Effekthascherei erscheinen lässt.

    Julia Schoch "Mir der Geschwindigkeit des Sommers", erschienen im Piper Verlag, 150 Seiten kosten 14,95 Euro