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Über den Mut zur Wahrheit

25 Jahre nach Michel Foucaults Tod ist das Interesse an seinem Werk nicht erlahmt. Nachdem vor einigen Jahren die Publikation der nachgelassenen Schriften als Sensation galt, wartet der Suhrkamp Verlag mit einer neuen Überraschung auf. Nun sind Foucaults letzte Vorlesungen am Collège de France, die als Massenereignis galten, veröffentlicht worden.

Von Klaus Englert | 22.02.2010
    Michel Foucault hielt seit 1970 Vorlesungen am Collège de France, dem Olymp des französischen Geisteslebens. Damals erreichte der Pariser Philosoph unter den Intellektuellen einen Kultstatus, denn sein zuvor erschienenes Buch "Les mots et les choses", das ein völlig neuartiges Konzept menschlicher Geschichte entwarf, avancierte zum unbestrittenen Bestseller. Deswegen waren Foucaults Vorlesungen am Collège ein Massenereignis. Während seiner Veranstaltungen waren die 300 Sitzplätze restlos besetzt, weitere 500 Leute standen dicht gedrängt daneben.

    Das ging so bis 1976, als sich Foucault eine andere Strategie überlegte: Er verlegte seine Vorlesung kurzerhand von den Abendstunden auf neun Uhr vormittags. Doch vergebens. Seine Fans strömten weiterhin jeden Mittwoch in die zwei Amphitheater des Collège de France. Foucaults Pult war mit zahlreichen Mikrofonen bedeckt. Im Saal gab es Leute, die saßen, andere standen, einige lagen auf dem Boden. Anwesend waren Schriftsteller, Politiker, Theaterleute, ja sogar der ehemalige Sekretär Stalins befand sich darunter.

    1983 bekannte Foucault seinem Freund, dem Soziologen Pierre Bourdieu: "Eines ist sicher, nächstes Jahr werde ich meine Vorlesung nicht wieder aufnehmen." Und dennoch setzte Foucault, sichtlich von der tödlichen Krankheit gezeichnet, seine Vorlesungen fort und trat vors Mikrofon des überfüllten Auditoriums. Er sei gekommen, um über den "Mut zur Wahrheit" zu sprechen. Und er gestand:

    "Leider konnte ich Anfang Januar meine Vorlesung nicht wie gewohnt fortsetzen. Ich war krank, wirklich krank. Es zirkulierten Gerüchte, die besagten, ich wolle lediglich einen Teil der Zuhörer loswerden. Nein, keineswegs. Ich war wirklich krank. Ich bitte Sie um Entschuldigung."

    Nachzulesen ist das jetzt in den vom Suhrkamp-Verlag herausgegebenen Vorlesungen. Bis zu seinem Todesjahr 1984 sprach Foucault also über den "Mut zur Wahrheit". Mit Blick auf das antike Griechenland, aber immer wieder mit Seitenblicken auf die Gegenwart. Dabei analysiert er, wie das freie, offene Wort, das Aussprechen dessen, was unter Einsatz des Lebens gesagt werden muss, zur Philosophie als Lebensform gehört. Und er erläutert an zahlreichen Beispielen die griechische Tradition der Parrhesia, des mutigen "Wahr-Sprechens". Bewusst stellte er sich dabei in die Tradition eines deutschen Denkers, der ein neues Griechenland-Bild entwerfen wollte - nämlich Friedrich Nietzsches, den Foucault nicht als Philosoph der Wahrheit, sondern des Wahr-Sprechens verstand. Dieses Wahr-Sprechen suchte der Pariser Philosoph auf der Seite der Schwachen. Das tat er schon einige Jahre zuvor, als er in den Archiven die Biografien der Delinquenten und Wahnsinnigen, der Gefangenen und Zukurzgekommenen las und die "Mikrophysik der Macht" formulierte.

    "Ja, ich möchte gerne die Geschichte der Besiegten schreiben. Das ist ein schöner Traum, den viele haben. Endlich einmal die zu Wort kommen lassen, die es bislang nicht konnten; die von der Geschichte, von der Gewalttätigkeit der Geschichte zum Schweigen gezwungen wurden, von allen Herrschafts- und Ausbeutungssystemen. Falls sie dennoch sprachen, dann sprachen sie nicht ihre eigene Sprache. Man hat ihnen eine fremde Sprache aufgezwungen. Sie sind nicht stumm. Nicht dass sie eine Sprache gesprochen hätten, die man nicht gehört hätte und der man sich verpflichtet fühlte, jetzt zuzuhören. Weil sie beherrscht wurden, ist ihnen Sprache und Begrifflichkeit aufgezwungen worden, und die ihnen so aufgezwungenen Gedanken sind die Kennzeichen der Wundmale der Unterdrückung."

    Auch in seinen letzten Vorlesungen beschäftigte sich Michel Foucault mit jenen Denkern, die von der akademischen Philosophie "zum Schweigen gezwungen wurden". Er las über die griechischen Kyniker, jene Grenzgänger der Philosophie, die freiwillig der Akademie Platons und Aristoteles' den Rücken gekehrt hatten.

    Seither galten die Kyniker um Diogenes und Krates, wie Foucault immer wieder betont, als Provokateure. Sie propagierten keine Lehre und waren nicht Lieblinge des gelehrten Publikums. Nein, sie lebten auf der Straße, schliefen in Tonnen, kopulierten im Freien und verkündeten ihre Lebensweisheiten dem einfachen Volk. Diese Kyniker - ihr Name stammt vom griechischen κύνος für "Hund" - interessierten sich nicht für die wahre Theorie, die gesellschaftliche Moral, sondern einzig für das wahre Leben.

    Das muss Foucault, der von vielen philosophischen Fakultäten gemieden wurde, fasziniert haben. Denn Philosophie war für ihn weniger eine Sache des Wissens als Lebenspraxis. In seinen Vorlesungen distanziert er sich deutlich von der philosophischen Geschichtsschreibung, die die vermeintlich wahre kynische Lehre scharf vom skandalösen Leben ihrer Verfechter trennt. Dagegen verdeutlicht Foucault, dass er diese Zweiteilung verwirft. Lieber spricht er vom philosophischen Leben der Kyniker. Und er fährt fort: Das, was sie sagen, gehört untrennbar zu dem, was sie tun. Diese Haltung macht Foucault an den Kynikern Demetrius und Diogenes verständlich, die er seinen Zuhörern als "philosophische Heroen" pries. Denn beide - darauf will Foucault hinaus - sagten den Herrschern ihre Meinung offen ins Gesicht. In seiner Vorlesung vom 12. Januar 1983 beschreibt er, wie er diese Parrhesia, dieses Wahr-Sprechen, bei den Kynikern versteht:

    "Der, der wahr spricht, wirft dem Gesprächspartner eine derart unerträgliche, gewaltige Wahrheit ins Gesicht - in einer schneidenden, endgültigen Weise -, sodass dem anderen nichts anderes übrig bleibt, als zu schweigen oder aus lauter Wut zu verstummen."

    Foucault war begeistert von diesem mutigen, todesverachtenden Aussprechen der Wahrheit. Als Beispiel erwähnt er Demetrius, der Caligula gegen sich aufbrachte, indem er sein verlockendes Geldgeschenk ausschlug und im Gegenzug das römische Reich einforderte. Ebenso erinnert Foucault an Diogenes, den Alexander der Große vor seiner Tonne aufsuchte, um ihm seine Reichtümer anzubieten. Doch der selbstgenügsame Philosoph entgegnete trotzig: "Geh mir aus der Sonne!"

    Foucault war beeindruckt von dieser unerschrockenen Haltung. Sie zeige, wie sich Leben in "philosophisches Leben" verwandle, aber auch, wie Demokratie der wahrhaftigen Rede bedürfe. In seiner Vorlesung nehmen die Kyniker einen herausragenden Platz ein, ganz anders als es die herkömmliche philosophische Geschichtsschreibung vorsieht:

    "Der Kynismus ist ein bedeutendes Ereignis in der Geschichte, nicht nur wegen der Lebensweisen, sondern wegen des Denkens. Der philosophische Heroismus, das philosophische Leben als heroisches Leben gründet im wesentlichen in dieser kynischen Tradition. Das läuft auf eine Geschichte der Philosophie hinaus, die sich nicht in philosophischen Lehrmeinungen erschöpfte, sondern sich ausrichtet auf Lebensweisen und Lebensstile, es wäre eine Geschichte des philosophischen Lebens als philosophisches Problem, als eine Form der Ethik und des Heroismus"

    Entsprechend betont Foucault: Philosophieren legitimiert nicht das, was man bereits weiß, sondern erkundet, bis zu welchem Punkt es möglich ist, anders zu denken. Das kann man heute - 25 Jahre nach Foucaults Tod - als sein geistiges Erbe verstehen. Allerdings hatte er keinerlei Illusionen. Denn er verachtete die Mehrheit der Philosophen, die sich auf ihren Lehrstühlen bequem einrichtete, zu Staatsdienern und Verwaltern des Wissens wurde.

    "Die Philosophie wurde zu einem Metier des Professors, und in diesem Augenblick verschwand das philosophische Leben."

    Michel Foucault selber hielt es lieber mit den Denkern, die mit ihrer Philosophie etwas im Leben riskieren. Deswegen können seine Vorlesungen, die sich bestens als Einstiegslektüre in seine Philosophie eignen, als Foucaults geistiges Erbe betrachtet werden. Seinen Zuhörern empfahl er gegen die Zumutungen eines Kulturbetriebs, dessen wohlfeilstes Ziel im narkotisierenden Konsens besteht, das Gegengift der Kyniker. Gegen die wohlmeinende, neutralisierende Propaganda der Massenmedien und der politischen Klasse setzte er auf kämpferischen Wahrheitsmut:

    "Die Begriffe Güte, Gerechtigkeit und gesunder Menschenverstand sind im Innern unserer Zivilisation, unseres Wissenstyps und unserer Philosophie gebildet worden. Folglich sind sie Teil unseres Klassensystems. So bedauerlich das sein mag, man kann diese Begriffe nicht heranziehen, um einen Kampf zu beschreiben oder zu rechtfertigen, der darauf abzielt, die Fundamente unserer Gesellschaft umzustürzen."

    Dieser in einem Gespräch mit Noam Chomsky geäußerten Meinung blieb Foucault bis zum Schluss treu - als Verteidiger der Homosexuellen-Rechte, als Kritiker der geschlossenen, psychiatrischen Anstalten und des Gefängnissystems. Kurz vor seiner letzten Vorlesungsreihe im Winter 1984 fragten ihn die Redakteure der französischen Zeitschrift "Le Débat", was ihm Philosophie als Lebensform bedeute:

    "Es gibt Augenblicke im Leben, in denen die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, anders wahrnehmen kann als man sieht, unerlässlich ist, um weiterhin zu sehen und nachzudenken. Was ist also die Philosophie heute oder die philosophische Tätigkeit, wenn sie nicht die kritische Arbeit des Denkens selbst ist? Ich schreibe, um mich selbst zu verändern und um nicht mehr dasselbe zu denken wie vorher. Diese Veränderung des eigenen Denkens und dem der anderen scheint mir die Daseinsberechtigung der Intellektuellen zu sein."

    Literaturliste:

    Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen
    Vorlesung am Collège de France 1982/83
    Suhrkamp Verlag 2009, 506 Seiten, 45,00Euro

    Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit
    Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84
    Suhrkamp Verlag 2010, 500 Seiten, 39,80Euro