Warm, golden und unversehrt leuchtet die säuberlich herausgetrennte Giebelwand eines Wohnhauses. Sie lehnt, als führe sie ein unvergängliches Eigenleben, still an der Fassade einer zerborstenen Häuserfront. Darüber schimmern engelsgleich in ihrer zarten Farbigkeit gespaltene Dachplatten und aufgerissenes Mauerwerk. An einigen Stellen ist die alabasterfarbene Schönheit der bizarren Dachlandschaft völlig unzerstört, gleichsam jungfräulich unberührt. Dort bildet sie bedeckt von Türmchen und Dachstöcken im Bauklötzchenformat eine Welt zeitloser Schönheit.
Doch die märchenhafte Szenerie wirkt seltsam fremd, kalt, gesichtslos, denn die Gebäude haben weder Fenster noch Bewohner: Waidwundes Mauerwerk eines ehemaligen Wohnviertels, das der Vernichtung anheimgegeben wurde. Keine Menschenseele. Kein Tier, kein Strauch, Räume ohne Wege - ein schaurig-schönes Bild des Untergangs, des missglückten Versuchs von Menschen, auf der Erde heimisch zu werden.
"Das Ghetto" heißt dieses Bild. Geschaffen hat es der jüdische Maler Samuel Bak im Jahr 1976, und es ist eines der eindrucksvollsten Zeugnisse der bildenden Kunst zum Thema Holocaust. Es findet sich unter zahllosen anderen Abbildungen in dem Buch "In Worte gemalt", den Lebenserinnerungen Samuel Baks. Der Untertitel verspricht, das "Bildnis einer verlorenen Zeit" zu liefern, und - so viel sei vorweggenommen - das Versprechen wird, farbenprächtig, vielschichtig und mit scheinbar leichter Hand, eingelöst.
Obgleich. Es ist das erste Mal, dass der in Boston lebende Künstler statt des Pinsels den Computer benutzt, um die grausamen, zutiefst traurigen, wunderbaren und absurden Stationen eines Überlebenden der Shoah zu schildern. Das beginnt in jenem Ghetto des polnischen Wilna, dem Jerusalem des Ostens, wie es heißt, der Stadt, in der Samuel Bak im Jahr 1933 geboren wurde.
"Ich war einer von 200 Juden, die von den 80 000 Menschen im Wilnaer Ghetto überlebt haben. Jeder von den 200 brauchte damals zehn Wunder, um zu überleben. Wer nur neun Wunder erlebte, war tot."
Eines der Wunder seines Überlebens war die Fähigkeit des jungen Samuel, das ihn umgebende Grauen des Ghettolebens und die daraus erwachsenden Erschütterungen in Bilder zu bannen: zuerst als Neunjähriger mit dem Zeichenstift, später mit Pinsel und Ölfarben. Schon im Wilnaer Ghetto, 1942, gab es die erste Ausstellung seiner Bilder. Seine Familie, an ihrer Spitze die Mutter, hatte entschieden, dass das Kind ein Künstler werden sollte. Und wenngleich Hitler andere Pläne hatte, wie der israelische Schriftsteller Amos Oz in seinem Vorwort zu "In Worte gemalt" trocken bemerkt, belegt das wundersame Schicksal des jüdischen Jungkünstlers, dass die starken Bande eines weit verzweigten familiären Netzwerks und die Transformationskraft kreativer Energien die erfolgreicheren Mittel in diesem Kampf waren.
Während die späteren großformatigen Ölbilder Samuel Baks häufig menschenleere apokalyptische Landschaften oder surreale Stillleben darstellen, sind seine in Worte gemalten Bilder im Beltz Verlag immer von Menschen bevölkert und stark belebt. Nicht chronologisch, sondern in einem assoziativen Prozess des Vor- und Zurückspringens zwischen den Zeiten und Orten zeichnet Samuel Bak in seinem Buch liebevolle, durchaus nicht unkritische Porträts seiner Eltern, der Großeltern, Onkel und Tanten samt Hausangestellten, beschreibt die jeweiligen Lebensschauplätze den Umständen entsprechend entweder scharf konturiert oder in den warmen Farben eines friedlichen Vorkriegsalltags.
Mit kräftigen Pinselstrichen und leicht ironischem Unterton erweckt er zum Beispiel die wunderbaren Nachmittage bei den Großeltern zum Leben. Welch Inseln kindlicher Glückseligkeit, wenn eimerweise Wasser auf den Holzdielen der großbürgerlichen Zimmerflucht ausgeschüttet wird, um das aufgelaufene Fantasieschiff des Dreikäsehochs wieder flott zu machen, oder wenn die kostbaren Porzellanfiguren vom obersten Regalbrett in einem unbeobachteten Moment auf dem alten Plattenteller in wilde Schwingungen versetzt werden.
"Ich fragte mich, was machen Porzellanfiguren, wenn ihnen schlecht wird? Übergeben sie sich?"
Die Frage ist nicht rechtzeitig zu klären, denn die Familienpreziosen zerstieben alsbald in tausend Scherben.
"Großmutter stand in Hut und Mantel im Zimmer, ihr Gesicht wie vom Donner gerührt. Großvater stürzte ebenfalls herein. ( ... ) Ich wußte, hier konnte mir nur noch sehr lautes Weinen helfen."
Zur Epoche ungetrübter Kindheitsfreuden zählt auch das sechste der insgesamt zwölf Hauptkapitel des Buches. Es beleuchtet voller Respekt und Detailfreude das Refugium einer Königin, und es ist beileibe nicht das Herrschaftsgelände von Samuels Mutter.
"Die wahre Herrscherin in unserem Königreich, diejenige, die Regen machte und manchmal auch ein wenig Sonne scheinen ließ, war unsere russische Haushälterin und Köchin Xenia. ( ... ) Wenn Xenia ihre Kuchen backte, wenn sie große Abendmenüs oder Empfänge für viele Gäste vorbereitete, wenn sie ihre einzigartigen Kompotte und Konfitüren herstellte, dann wurde der Küchentisch zum Schauplatz magischer Ereignisse, deren Zeuge ich sein durfte."
Ohne Zweifel geht es in Baks Erinnerungen um den unwiderruflichen Untergang einer lebendigen, wohlgeordneten und wohlständigen Welt und der grausamen Ausrottung seiner Bewohner, im vorliegenden Fall aller Familienmitglieder außer Bak selbst und seiner Mutter. Wir werden Zeugen permanenter Flucht und Entwurzelung, andauernder Todesängste und schmerzlicher Gefühle, die sich nach dem Krieg in den Flüchtlingslagern und den Stationen der Heimatsuche in Israel und anderswo bis heute fortsetzen. Gleichzeitig gelingt es dem Autor, uns an den vielen kleinen Wundern des Überlebens entlang seines Weges mit Lesefreude teilhaben zu lassen. Und indem er den unbändigen Lebenswillen seiner Protagonisten, die vielen Farbtöne jeder einzelnen Lebensgeschichte auf der inneren Leinwand seiner Leser und Leserinnen neu anmischt und in Worte malt, setzt er all jenen ein unvergängliches Denkmal, die sich nicht retten konnten, denen nur zwei oder neun Wunder vergönnt waren.
Samuel Bak hat sich selbst einmal als ewig wandernden Juden beschrieben. Im Nachwort seiner Erinnerungen heißt es dazu:
"Immer wieder befreite ich meine frisch geschlagenen Wurzeln vorsichtig aus der Erde und packte sie in einen Koffer. Ich musste sie heil erhalten für neue Reisen und neue Verpflanzungen. Unterschiedliche Sprachen, Kulturen und Landschaften wurden Teil meiner Seele."
Auf meisterliche Weise hat der Künstler diese Überlebensstrategie 1983 in ein Ölbild gebannt: Vor einem eisblauen Himmel ein Vogel, verfangen im Gestrüpp abgestorbener Äste, gehüllt in die zerfetzten Überreste eines Sträflingsfederkleids. Er hat die angeschlagenen Flügel ausgebreitet, sein Kopf, traurig, aber entschlossen, ist ausgerichtet in eine unbestimmte Ferne. Er fliegt, wie es scheint, mitsamt dem toten Astwerk, mit all seinen Wurzeln. "Escape", "Entkommen", hat Samuel Bak sein Werk genannt. Es ist wunderschön.
Samuel Bak: In Worte gemalt. Bildnis einer verlorenen Zeit
Mit einem Vorwort von Amos Oz
Ins Deutsche übertragen von Andreas Nohl
Beltz Verlag 2007, 384 Seiten, 29,90 Euro
Doch die märchenhafte Szenerie wirkt seltsam fremd, kalt, gesichtslos, denn die Gebäude haben weder Fenster noch Bewohner: Waidwundes Mauerwerk eines ehemaligen Wohnviertels, das der Vernichtung anheimgegeben wurde. Keine Menschenseele. Kein Tier, kein Strauch, Räume ohne Wege - ein schaurig-schönes Bild des Untergangs, des missglückten Versuchs von Menschen, auf der Erde heimisch zu werden.
"Das Ghetto" heißt dieses Bild. Geschaffen hat es der jüdische Maler Samuel Bak im Jahr 1976, und es ist eines der eindrucksvollsten Zeugnisse der bildenden Kunst zum Thema Holocaust. Es findet sich unter zahllosen anderen Abbildungen in dem Buch "In Worte gemalt", den Lebenserinnerungen Samuel Baks. Der Untertitel verspricht, das "Bildnis einer verlorenen Zeit" zu liefern, und - so viel sei vorweggenommen - das Versprechen wird, farbenprächtig, vielschichtig und mit scheinbar leichter Hand, eingelöst.
Obgleich. Es ist das erste Mal, dass der in Boston lebende Künstler statt des Pinsels den Computer benutzt, um die grausamen, zutiefst traurigen, wunderbaren und absurden Stationen eines Überlebenden der Shoah zu schildern. Das beginnt in jenem Ghetto des polnischen Wilna, dem Jerusalem des Ostens, wie es heißt, der Stadt, in der Samuel Bak im Jahr 1933 geboren wurde.
"Ich war einer von 200 Juden, die von den 80 000 Menschen im Wilnaer Ghetto überlebt haben. Jeder von den 200 brauchte damals zehn Wunder, um zu überleben. Wer nur neun Wunder erlebte, war tot."
Eines der Wunder seines Überlebens war die Fähigkeit des jungen Samuel, das ihn umgebende Grauen des Ghettolebens und die daraus erwachsenden Erschütterungen in Bilder zu bannen: zuerst als Neunjähriger mit dem Zeichenstift, später mit Pinsel und Ölfarben. Schon im Wilnaer Ghetto, 1942, gab es die erste Ausstellung seiner Bilder. Seine Familie, an ihrer Spitze die Mutter, hatte entschieden, dass das Kind ein Künstler werden sollte. Und wenngleich Hitler andere Pläne hatte, wie der israelische Schriftsteller Amos Oz in seinem Vorwort zu "In Worte gemalt" trocken bemerkt, belegt das wundersame Schicksal des jüdischen Jungkünstlers, dass die starken Bande eines weit verzweigten familiären Netzwerks und die Transformationskraft kreativer Energien die erfolgreicheren Mittel in diesem Kampf waren.
Während die späteren großformatigen Ölbilder Samuel Baks häufig menschenleere apokalyptische Landschaften oder surreale Stillleben darstellen, sind seine in Worte gemalten Bilder im Beltz Verlag immer von Menschen bevölkert und stark belebt. Nicht chronologisch, sondern in einem assoziativen Prozess des Vor- und Zurückspringens zwischen den Zeiten und Orten zeichnet Samuel Bak in seinem Buch liebevolle, durchaus nicht unkritische Porträts seiner Eltern, der Großeltern, Onkel und Tanten samt Hausangestellten, beschreibt die jeweiligen Lebensschauplätze den Umständen entsprechend entweder scharf konturiert oder in den warmen Farben eines friedlichen Vorkriegsalltags.
Mit kräftigen Pinselstrichen und leicht ironischem Unterton erweckt er zum Beispiel die wunderbaren Nachmittage bei den Großeltern zum Leben. Welch Inseln kindlicher Glückseligkeit, wenn eimerweise Wasser auf den Holzdielen der großbürgerlichen Zimmerflucht ausgeschüttet wird, um das aufgelaufene Fantasieschiff des Dreikäsehochs wieder flott zu machen, oder wenn die kostbaren Porzellanfiguren vom obersten Regalbrett in einem unbeobachteten Moment auf dem alten Plattenteller in wilde Schwingungen versetzt werden.
"Ich fragte mich, was machen Porzellanfiguren, wenn ihnen schlecht wird? Übergeben sie sich?"
Die Frage ist nicht rechtzeitig zu klären, denn die Familienpreziosen zerstieben alsbald in tausend Scherben.
"Großmutter stand in Hut und Mantel im Zimmer, ihr Gesicht wie vom Donner gerührt. Großvater stürzte ebenfalls herein. ( ... ) Ich wußte, hier konnte mir nur noch sehr lautes Weinen helfen."
Zur Epoche ungetrübter Kindheitsfreuden zählt auch das sechste der insgesamt zwölf Hauptkapitel des Buches. Es beleuchtet voller Respekt und Detailfreude das Refugium einer Königin, und es ist beileibe nicht das Herrschaftsgelände von Samuels Mutter.
"Die wahre Herrscherin in unserem Königreich, diejenige, die Regen machte und manchmal auch ein wenig Sonne scheinen ließ, war unsere russische Haushälterin und Köchin Xenia. ( ... ) Wenn Xenia ihre Kuchen backte, wenn sie große Abendmenüs oder Empfänge für viele Gäste vorbereitete, wenn sie ihre einzigartigen Kompotte und Konfitüren herstellte, dann wurde der Küchentisch zum Schauplatz magischer Ereignisse, deren Zeuge ich sein durfte."
Ohne Zweifel geht es in Baks Erinnerungen um den unwiderruflichen Untergang einer lebendigen, wohlgeordneten und wohlständigen Welt und der grausamen Ausrottung seiner Bewohner, im vorliegenden Fall aller Familienmitglieder außer Bak selbst und seiner Mutter. Wir werden Zeugen permanenter Flucht und Entwurzelung, andauernder Todesängste und schmerzlicher Gefühle, die sich nach dem Krieg in den Flüchtlingslagern und den Stationen der Heimatsuche in Israel und anderswo bis heute fortsetzen. Gleichzeitig gelingt es dem Autor, uns an den vielen kleinen Wundern des Überlebens entlang seines Weges mit Lesefreude teilhaben zu lassen. Und indem er den unbändigen Lebenswillen seiner Protagonisten, die vielen Farbtöne jeder einzelnen Lebensgeschichte auf der inneren Leinwand seiner Leser und Leserinnen neu anmischt und in Worte malt, setzt er all jenen ein unvergängliches Denkmal, die sich nicht retten konnten, denen nur zwei oder neun Wunder vergönnt waren.
Samuel Bak hat sich selbst einmal als ewig wandernden Juden beschrieben. Im Nachwort seiner Erinnerungen heißt es dazu:
"Immer wieder befreite ich meine frisch geschlagenen Wurzeln vorsichtig aus der Erde und packte sie in einen Koffer. Ich musste sie heil erhalten für neue Reisen und neue Verpflanzungen. Unterschiedliche Sprachen, Kulturen und Landschaften wurden Teil meiner Seele."
Auf meisterliche Weise hat der Künstler diese Überlebensstrategie 1983 in ein Ölbild gebannt: Vor einem eisblauen Himmel ein Vogel, verfangen im Gestrüpp abgestorbener Äste, gehüllt in die zerfetzten Überreste eines Sträflingsfederkleids. Er hat die angeschlagenen Flügel ausgebreitet, sein Kopf, traurig, aber entschlossen, ist ausgerichtet in eine unbestimmte Ferne. Er fliegt, wie es scheint, mitsamt dem toten Astwerk, mit all seinen Wurzeln. "Escape", "Entkommen", hat Samuel Bak sein Werk genannt. Es ist wunderschön.
Samuel Bak: In Worte gemalt. Bildnis einer verlorenen Zeit
Mit einem Vorwort von Amos Oz
Ins Deutsche übertragen von Andreas Nohl
Beltz Verlag 2007, 384 Seiten, 29,90 Euro