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Über den vergessenen Widerstand

Wenn es um den Widerstand gegen die NS-Diktatur ging, dann konnte sich die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft am ehesten mit dem gescheiterten Attentat der Offiziere vom

Von Hans-Martin Lohmann |
    20. Juli 1944 anfreunden. Johannes Tuchel, Jahrgang 1957 und Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, hat einen neuen Band herausgegeben, der die Leser auch in die bisher weniger beleuchteten Nischen des Kampfes gegen den Nationalsozialismus blicken lässt.

    Wenn man sich vor Augen führt, mit welchem öffentlichen Aufwand und mit welcher medialen Resonanz im Sommer des letzten Jahres der 6o. Jahrestag des gescheiterten Attentats des Grafen Stauffenberg auf Hitler begangen wurde, kann man sich kaum noch vorstellen, dass das einmal ganz anders war. Dass sechzig Jahre nach Kriegsende die Männer und Frauen des 2o. Juli jene öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung finden, die sie verdienen, erscheint uns als pure Selbstverständlichkeit.

    Das war, wie gesagt, einmal ganz anders. In den Anfängen der Bundesrepublik, also in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, hatte der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus allgemein ein schlechte Presse. Widerstand galt in weiten Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit als unehrenhaftes Verhalten und "Vaterlandsverrat". Die Überlebenden des Widerstands und ihre Angehörigen sahen sich diversen Diffamierungskampagnen ausgesetzt, nicht selten wurden ihnen unter Hinweis auf den Tatbestand des Hoch- und Landesverrats Pensionen und Renten verweigert. Der Vorsitzende des neu gegründeten Verbandes Deutscher Soldaten in Bayern, Oberst a.D. Ludwig Gümbel, erklärte etwa im Oktober 1951, dass für die Widerstandskämpfer des 2o. Juli kein Platz in einer neuen deutschen Armee sei:

    "Wir meinen, dass ihre Rückkehr sich in einer Gefährdung des soldatischen Geistes, ohne den jeder Wehrbeitrag undenkbar ist, auswirken muss und wird."

    Das war keine vereinzelte Stimme im politisch restaurativen Klima der fünfziger Jahre. Und die Älteren unter unseren Hörern erinnern sich gewiss noch daran, dass in den sechziger Jahren der spätere sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt unter Hinweis auf seine Vergangenheit als Emigrant eine üble Verleumdungskampagne über sich ergehen lassen musste. Emigranten und Widerstandskämpfer, besonders solche politisch linker Couleur, galten großen Teilen der Öffentlichkeit nicht als Exponenten der deutschen Freiheitsgeschichte gegen Tyrannei und Diktatur, sondern als "vaterlandslose Gesellen".

    Dieses Klima änderte sich erst in den Jahren, die auf 1968 folgten. Johannes Tuchel, der als Herausgeber mit seinem Buch an den "vergessenen Widerstand" erinnern will, weist in seinem Vorwort, das auch den aktuellen Stand der Widerstandsforschung resümiert, ganz zu Recht darauf hin, dass die Chiffre "1968" für einen allmählich einsetzenden kollektiven Mentalitätswandel steht, in dessen Gefolge eine neue Bewertung des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus, und zwar in allen seinen Facetten, möglich wurde. Hier sei die Anmerkung erlaubt, dass die hämischen bis böswilligen Kommentare, die bis heute die Generation der Achtundsechziger von Seiten der konservativen Medien, federführend der FAZ, begleiten und sie für alle Fehlentwicklungen der Bundesrepublik haftbar machen, historisch unhaltbar und intellektuell wie moralisch zutiefst unredlich sind.

    Im ersten Teil des Buches kommen lange übersehene oder von der Historiographie vernachlässigte Aspekte der Realgeschichte des Widerstands zu Wort. Das betrifft nicht zuletzt Personen und Gruppen, die im Kontext der deutschen politischen Geschichte des 2o. Jahrhunderts ohnehin eher eine Randexistenz fristeten, z.B. Anarchisten und Anarchosyndikalisten, deren Widerstandstätigkeit gegen die Nazidiktatur Andreas G. Graf untersucht hat. Auch Gruppierungen wie die "Gemeinschaft für Frieden und Aufbau", ein Zusammenschluss von etwa zwanzig Personen, die unter anderem halfen, verfolgte Juden in Sicherheit zu bringen, oder die Widerstandsorganisation "Europäische Union", welcher der später bekannte DDR-Physiker Robert Havemann angehörte, dürften den wenigsten geläufig sein – Barbara Schieb und Bernd Florath haben sie mit ihren Beiträgen dem Vergessen entrissen.

    Am Beispiel des Konzentrationslagers Dachau, eines der frühesten Nazi-KZ, zeigt Jürgen Zarusky, dass es selbst unter den extremen Bedingungen des Terrors bestimmte Formen des Widerstands und der Solidarität unter den Häftlingen gab, womit er Wolfgang Sofskys bekannter These von der unentrinnbaren "Ordnung des Terrors" zumindest partiell widerspricht. So war es ein Unterschied, ob die Kriminellen oder die politischen Gefangenen unter den sog. Funktionshäftlingen die Oberhand hatten, wie auch Eugen Kogon in seiner klassischen Studie über den "SS-Staat" bezeugt:

    "Das Verdienst der Kommunisten um die KL-Gefangenen kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. In manchen Fällen verdanken ihnen die Lagerinsassen buchstäblich die Gesamtrettung, wenn auch die Beweggründe selten reiner Uneigennützigkeit entsprangen, sondern meist dem Gruppen-Selbsterhaltungstrieb, an dessen positiven Folgen dann manchmal eben ein ganzes Lager teilnahm."

    Auch das gab es schließlich: die Helfer in Uniform, d.h. Angehörige der Wehrmacht und der Polizei, die Widerstand in Form von Rettung bedrohter Menschen leisteten. Dass es deutsche Judenretter wie den Feldwebel Anton Schmid gab, der Hunderte von Juden aus dem Ghetto im litauischen Wilna vor dem Zugriff der Deutschen rettete und dafür im April 1942 hingerichtet wurde, oder den Hauptmann Wilm Hosenfeld, porträtiert in Roman Polanskis Film "Der Pianist", ist uns zwar aus Einzelfällen bekannt. Aber eine systematische Untersuchung jener Helfer in Uniform lag bislang nicht vor – Peter Steinkamp liefert sie zumindest in Umrissen.

    Der zweite Teil des Buches widmet sich Problemen der Wahrnehmungsgeschichte und der politischen Instrumentalisierung des Widerstands. Lange Zeit war der Hitler-Attentäter Georg Elser, der am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller eine Bombe zündete, um den von Hitler soeben begonnenen Krieg zu stoppen, im öffentlichen Bewusstsein eine Art persona non grata. Er wurde als verschrobener Sonderling und sogar als Handlanger der Gestapo diffamiert, ehe er schließlich nach Jahrzehnten allmählich dem Dunkel des Un- und Halbwissens entrissen wurde. Der Beitrag von Ulrich Renz stellt Elser in jenen Zusammenhang, in den er genuin gehört – in den des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus.

    Ekkehard Klausa und Claudia Fröhlich thematisieren in ihren Beiträgen zwei weitere wenig bekannte Aspekte der Wahrnehmungsgeschichte des Widerstands. Klausa untersucht das heikle Thema, inwieweit der konservative Widerstand gegen Hitler von antisemitischen Ressentiments geprägt war. Dass es in den militärisch-adligen und bürgerlichen Kreisen antisemitische Einstellungen gab, scheint ebenso unzweifelhaft zu sein wie die Tatsache, dass dieser Sachverhalt in der heutigen Öffentlichkeit so etwas wie eine kognitive Dissonanz hervorruft: Wie muss der Widerstand der konservativen Opposition beurteilt werden, wenn die "große Tat" von einem niedrigen Sentiment überschattet war? In diesem Kontext diskutiert der Autor auch Daniel Goldhagens umstrittene These von einem singulären deutschen Vernichtungsantisemitismus und schreibt:

    "Singulär für ein westliches Land war [...] die Hilflosigkeit und Anpassungsbereitschaft der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen gegenüber dem Zugriff der Diktatur, und singulär war der fast bedingungslose Gehorsam der gleichgeschalteten Untertanen, gerade auch der konservativen Eliten, gegenüber einer verbrecherischen Obrigkeit."

    Was die Beurteilung des konservativen Antisemitismus betrifft, so warnt Klausa davor, jene Maßstäbe anzulegen, die wir heute aus der Nach-Auschwitz-Perspektive anzulegen gewohnt sind.

    Claudia Fröhlich lenkt den Blick auf die westdeutsche Justiz der fünfziger Jahre und ihren Umgang speziell mit den Attentätern des 2o. Juli 1944 und zeigt, wie mühsam es war, das Recht zum Widerstand auch juristisch zu legitimieren. Was im Hinblick auf den 2o. Juli schließlich gelang, scheiterte in anderen Fällen – z.B. in dem der kommunistischen Widerstandsgruppe "Rote Kapelle", deren Mitglieder im politischen Kontext des Kalten Krieges und der westdeutschen Kommunistenphobie als "Spione" und "Landesverräter" delegitimiert und diffamiert wurden.

    Umgekehrt verfuhr man in der DDR. Dort wurde, wie der Herausgeber Johannes Tuchel darlegt, als antifaschistischer Widerstand im wesentlichen nur gelten gelassen, was sich dem geschlossenen Geschichtsbild der SED fügte: Widerstand gegen Hitler war allein möglich unter Führung der Kommunistischen Partei. Andere politische Formen und Gestalten des Widerstands waren weitgehend tabu. Nach dem Krieg wurde in der DDR, nicht zuletzt unter Anleitung des Ministeriums für Staatssicherheit, an einem Widerstandsmythos der KPD, ihres Führers Ernst Thälmann und der "Roten Kapelle" gebastelt, der mit den historischen Realitäten wenig zu tun hatte. So wurde auf beiden Seiten der Mauer, die der Kalte Krieg quer durch Deutschland gezogen hatte, der jeweils genehme, ins eigene Geschichtsbild passende Widerstand politisch instrumentalisiert.

    Lobenderes kann man über ein Buch wie dieses kaum sagen: nämlich dass es im besten Sinne aufklärt und den Leser mit neuen Einsichten und Fragen zurücklässt.

    Hans-Martin Lohmann war das über: "Der vergessene Widerstand. Zu Realgeschichte und Wahrnehmung des Kampfes gegen die NS-Diktatur", herausgegeben von Johannes Tuchel beim Wallstein Verlag, Göttingen. Das Buch hat 280 Seiten für 2o Euro.