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Über der Oste schweben

Deutschlands älteste Schwebefähre ist schon rund hundert Jahre im Dienst. Nahe der Stadt Hemmoor bringt sie Besucher geräuschlos und sanft von einem Ufer der Oste zum anderen.

Von Günter Beyer |
    In dem flachen Land ist das hoch aufragende Ungetüm schon von Weitem zu erkennen: eine grün gestrichene Eisenkonstruktion leuchtet am Horizont. Aber was mag das sein? Der Ausleger eines monströsen Baukrans? Eine Eisenbahnbrücke? Aber diese Strecke müsste schon lange stillgelegt sein, denn links und rechts fehlen die Auffahrtrampen. Also kein Eisenbahnviadukt! Nähert man sich dem Fluss Oste, sieht man klarer: Die Eisenfachwerkkonstruktion ruht auf vier Pfeilern, zwei auf dem linken Flussufer, zwei auf dem rechten. Und unterhalb des Eisengitters hängt an Stahlstreben eine Gondel, die sich im Schneckentempo lautlos auf das Ostener Ufer zu bewegt. Als schwebe sie über dem Fluss. Deutschlands älteste Schwebefähre ist wieder unterwegs. In Osten schieben Radlerinnen ihre Stahlrösser an Bord.

    Just in dem Augenblick als die Fähre losschweben will, biegt ein großer Trupp Radlerinnen und Radler aus Franken um die Ecke. Na klar, die nimmt der Fährmann auch noch mit, genügend Platz ist auf dem fliegenden Teppich ja vorhanden.

    "Wir kommen jetzt aus Cadenberge, da haben wir schon 18 Kilometer hinter uns. Voll mit Gepäck.
    "Haben Sie jetzt gezielt die Schwebefähre angesteuert"?"
    Ja. Haben wir gezielt angesteuert. Also ich war schon mal hier vor zehn Jahren. Ich kenn das. Einmalig. Ich hab gesagt: Wir müssen da rüberfahren. Das ist ja was Besonderes. Man meint, man schwebt über den Wolken."

    Na, ganz so hoch gleitet die Gondel nun doch nicht über der Oste. Aber ein paar Meter sind es schon - je nachdem, wie hoch Ebbe und Flut auflaufen. Denn die Oste, ein Nebenfluss der Elbe, ist abhängig von den Gezeiten. 80 Meter ist der Fluss an dieser Stelle breit. Für die Überfahrt benötigt die Schwebefähre geruhsame sechs Minuten. Null Komma acht Kilometer pro Stunde. Schwimmen wäre schneller. Einige Fahrgäste haben es sich auf den weiß gestrichenen Bänken bequem gemacht. Sie blinzeln in die Sonne oder lassen den Blick über die weite Flusslandschaft wandern. Auf der einen Seite, zusammengedrängt um seine barocke Dorfkirche: der alte Ort Osten. Auf der anderen Seite: Wiesen, Weiden und am Horizont das Städtchen Hemmoor. Während der Überfahrt kann man auch den Informationen vom Bordlautsprecher lauschen.

    "Lassen Sie sich für dieses filigrane Bauwerk aus Kaisers Zeiten begeistern! Erschweben Sie die Oste, und genießen Sie die Überfahrt. Herzlich willkommen auf der ältesten Schwebefähre Deutschlands hier in Osten! Verbaut wurden nur 252 Tonnen Stahl. Gösse man diesen Stahl zu einem Würfel, so würde er eine Kantenlänge von nur 3,20 Meter haben."

    Stolze 280.000 Goldmark hatte sich die Gemeinde Osten den Bau vor hundert Jahren kosten lassen. Aber warum begnügte man sich nicht mit einer ganz gewöhnlichen schwimmenden Fähre? 80 Meter von Ufer zu Ufer sollten doch wohl kein Problem sein! Die Familie Ahlff betreibt seit Langem den "Fährkrug", direkt am Deich auf dem Ostener Ufer. 1963 hat Horst Ahlff Hotel und Restaurant von seiner Mutter übernommen.

    "Es war früher grundsätzlich, dass wir im Winter hier Eisgang und ne Eisdecke hatten. Dann kann keine Flussfähre fahren. Das war das wesentliche Argument, eine Schwebefähre zu bauen. Sie schwebt über die Eisdecke."

    Ein weiteres Argument war der damals starke Schiffsverkehr auf dem Fluss.

    "Bei einer Verkehrszählung 1897 passierten die Fährstelle Osten circa 14.000 Schiffseinheiten. Das hätte bedeutet, dass eine Dreh- oder Klappbrücke bei der damaligen Technik höchstens zwei Stunden am Tag geschlossen gewesen wäre für den Straßenverkehr. Also vollkommen uneffektiv."

    Segelschiffe mit hohen Masten transportierten unablässig Ziegel und Zement, Sand und Kies, Vieh, Getreide und Torf. Unter der 30 Meter hohen Stahlkonstruktion bei Osten konnten die Frachtsegler problemlos durchfahren. War der Fluss frei, setzte der Fährmann den Elektromotor der Gondel in Betrieb. Solche Schwebefähren wurden auch anderswo gebaut. In Frankreich etwa verbanden sie die einander gegenüberliegenden Kais von Hafenbecken. Aufwendige und platzraubende Brückenrampen konnte man auf diese Weise sparen. Weltweit sind heute noch acht Schwebefähren erhalten, in Deutschland überspannt ein weiteres Vehikel dieser Art den Nordostseekanal bei Rendsburg. Mit der rasanten Motorisierung in den 60er-Jahren stieß die langsame Fähre in Osten bald an ihre Grenzen. An beiden Ufern stauten sich Pkw und Lastwagen. Das mussten doch wohlhabende Zeiten für Horst Ahlff und seinen "Fährkrug" gewesen sein! Aber der Gastwirt winkt ab.

    "Nein. Gar nicht. Im Gegenteil. Früher waren wir ein Bahnhofslokal, an Ruhe war nicht zu denken für Hotelgäste. Die flogen quasi ausm Bett, wenn die Fähre ansetzte. Das war ein Krach, ein Gerumpel, und die fuhr nachts, wenn alles leise war! Das war für die Hotelgäste nicht angenehm hier zu wohnen, das muss ich fairerweise sagen. Manche haben abends in der Gaststätte was genossen, damit sie besser schliefen. Ich habe im Monat bis zu 5.000 Telefoneinheiten umgesetzt, das war mein größtes Einkommen: Telefon."

    Mitte der 70er-Jahre wurde ein paar hundert Meter unterhalb der Schwebefähre schließlich eine massive Betonbrücke gebaut, auf Segelschiffe mit hohen Masten brauchte man keine Rücksicht mehr zu nehmen. Das hätte das Aus für die Schwebefähre bedeuten können, aber Horst Ahlff gründete einen Förderverein. Die Fähre kam als "technisches Denkmal" unter staatlichen Schutz. Sie wurde mehrmals saniert. Autos nimmt die Fähre nur noch in Ausnahmefällen mit, erzählt Fährmann Heinz Thedrian.

    "Es sei, höchstens mal 'n Oldtimer, das kriegen wir noch inne Reihe. Die wollen ja auch viel Fotos machen. Motorräder nehmen wir mit, Fahrräder haben wir auch viel."

    Nach den Instandsetzungsarbeiten ist mit Krach und Gerumpel Schluss, und heute schwebt die Fähre kaum hörbar über den Fluss. Davon überzeugen sich gerade Fahrgäste, die als Experten fürs Schweben im Alltag gelten können. Sie kommen nämlich aus Wuppertal, wo quer durch die Stadt bekanntlich die 13 Kilometer lange Schwebebahn verkehrt. Unterschiede zwischen Schwebebahn und Schwebefähre haben die Wuppertaler natürlich gleich festgestellt.

    "Ist sehr langsam, aber auch angenehm. Man ist draußen an der frischen Luft zum Beispiel."

    "Auf alle Fälle leiser, ruhiger, komfortabler. Allerdings ist Open-Air. Die Schwebebahn ist ja zu, die fährt also immer, das heißt also, egal, Wind, Regen, das macht nix. Aber hier hat man ja Open-Air, aber bei dem schönen Wetter ist das wunderbar."
    "Fehlt Ihnen nicht ein bisschen Geschwindigkeit?"
    "Nö. Gar nicht. Das muss nicht sein. Also bei der Geschwindigkeit wäre dieser schöne Spaß viel zu schnell vorbei. Ist schon in Ordnung so."