Archiv


Über die moderne Ökonomie des Kapitalismus

Der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett hat sich zuhause ziemlich unbeliebt gemacht, als er der modernen Ökonomie des Kapitalismus bescheinigte, sie begünstige eine "weiche Spielart des Faschismus". Richard Sennett sieht das Vorbild eines solchen autoritären Politikmodells, wie es aus seiner Sicht Tony Blair und George Bush verkörpern, in der Struktur moderner Unternehmen, an denen jede ernsthafte Mitbestimmungsforderung der dort Arbeitenden glatt abprallt. Seit Jahren schreibt Sennett recht erfolgreiche Bücher über die Auswirkungen des "neuen Kapitalismus", wie er das nennt, auf die Lebensverhältnisse der Menschen. Und nun ist, nach dem "flexiblen Menschen" und "Respekt im Zeitalter der Ungleichheit" ein weiteres Buch von Sennett erschienen: Die Kultur des neuen Kapitalismus. Hermann Theißen hat es gelesen:

Von Hermann Theißen |
    Als der Piper Verlag vor sieben Jahren Richard Sennetts Buch "Der flexible Mensch", eine Studie über die neuen Anforderungen an den 'modernen Arbeitnehmer’ und deren Folgen für "Die Kultur der Gesellschaft", herausbrachte, prognostizierte er im Klappentext:

    Dieses schmale, streitbare Buch wird in die Diskussion um die Auswirkungen des neuen Kapitalismus auch auf unsere Gesellschaft eingreifen.

    Die Prognose war mehr als Verlagswerbung. Bis heute kommt keiner, der sich über die Auswirkungen der Globalisierung auf die Beschäftigungs- und Sozialsysteme auslässt, an Sennett vorbei. Das liegt nicht nur an der Originalität seiner Thesen, Sennetts Popularität verdankt sich auch der Tatsache, dass er seine Beobachtungen aus der Arbeitswelt zu Szenarien verdichtet, in denen Empirie und Spekulation sich mischen und am Ende eine kulturpessimistische Gesamtschau ergeben. Dabei legt der US-amerikanische Soziologe auf Präzision nicht den allergrößten Wert, schockiert und unterhält seine Leser lieber mit impressionistischen Montagen, deren Stringenz nicht immer erkennbar ist. Wer mag, kann sich in diesem Steinbruch nach Belieben bedienen, Teile der Befunde herausgreifen, verkürzen, umdeuten und die fragmentierten Fragmente in neue Zusammenhänge stellen. Der Soziologe, der an der renommierten London School of Economics lehrt, ist rechts wie links als Stichwortgeber überaus gefragt. Zwei an den Rändern des politischen Spektrums gefundene Beispiele mögen dies belegen. Das erste ist dem Band "Die Kultur der Freiheit" entnommen, den der Verfassungsrichter Udo di Fabio im Juli bei Beck in München herausgebracht hat.

    Die moderne Wirtschaft hat - funktionell betrachtet - solche Menschen eben nicht mehr als optimal einsetzbar angesehen, die allzu fest in Familientraditionen und lokale Gebundenheiten eingebunden waren, die ihre Nachbarschaft nicht missen wollten oder die am Wort der Autoritäten von gestern hingen. Der freie, moderne Mensch, bestens geeignet für Arbeitswelt und Konsum, muss mobil sein, sprachgewandt, weltoffen und vor allem ungebunden. Frauen mit mehreren Kindern, sozial tief verwurzelte Väter scheinen nicht in Unternehmen zu passen, die bedrohten und bedrohlichen Haifischen gleich im internationalen Wettbewerb stehen. Menschen mit tiefen Glaubensbindungen und einer als konservativ belächelten Lebensführung, aber auch mit allzu intensiver klassischer Bildung scheint einfach die Unbekümmertheit zu fehlen, die Offenheit für alles Neue, die bedenkenlose Anpassungsfähigkeit, die die notwendige Voraussetzung für rasches Agieren, Ausnutzen von Vorteilen, überraschende Innovationen sind.

    Di Fabio verzichtet in diesem Kapitel seiner erzkonservativen Kulturkritik zwar auf Anmerkungen, aber auch so ist unübersehbar, dass "Der flexible Mensch" dem Verfassungsrichter als Quelle diente. Di Fabios Klage ist nichts anderes als eine Zusammenfassung einiger Befunde Sennetts. Nur, dass der US-amerikanische Soziologe den mobilisierten und entwurzelten Typus als funktionale und überlebensnotwendige Antwort auf eine neue Spielart des Kapitalismus deutet, während der deutsche Richter seinen Lieblingsfeinden, den 68ern, eine Mitschuld an den neuen Anforderungen des Beschäftigungssystems andichtet. Wer in den sechziger Jahren Traditionen oder klassische Bildungsinhalte angegriffen habe, fabuliert Di Fabio, solle sich heute nicht wundern, dass die in der New Economy nur noch Störfaktoren seien.

    Ganz anders bedient sich Oskar Lafontaine bei Sennett. In seiner "Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft", die im Frühsommer bei Econ unter dem Titel "Politik für Alle" erschienen ist, ruft er ihn als Zeugen seiner Anklage gegen den neoliberalen Konsens auf.

    Der amerikanische Soziologe Richard Sennett schrieb vor einiger Zeit ein Buch mit dem Titel "Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus." Darin schildert er, wie der flexible Arbeitsmarkt das Leben in Amerika verändert hat: "Heute muss ein junger Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium damit rechnen, in vierzig Arbeitsjahren wenigstens elfmal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis wenigstens dreimal auszutauschen." Sennett hatte beobachtet, wie durch die Zerstückelung des Arbeitslebens etwas zerstört wird, was die Grundlage menschlicher Existenz ist: Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit. So schreibt er: "Vielleicht ist die Zerstörung des Charakters eine unvermeidliche Folge. Wenn es nichts Langfristiges mehr gibt, desorientiert das auf lange Sicht jedes Handeln, löst die Bindungen von Vertrauen und Verpflichtung und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung." Welch vernichtendes Urteil! Und wie traurig ist es zu beobachten, wie die Herolde der Reformierung und Modernisierung Deutschlands von diesen Folgen ihres gedankenlosen Tuns keine Ahnung haben. Oft sind sie selbst in ihrer mangelnden Verlässlichkeit Opfer des gesellschaftlichen Wandels, den sie als notwendig und unverzichtbar bezeichnen.

    Lafontaines Polemik blendet zwar auch aus, dass Sennett strukturelle Entwicklungen und nicht intentionales Handeln beschreibt, aber in einem würde der Amerikaner dem Saarländer Recht geben. Die Veränderungen im ökonomischen System haben nicht nur die Kultur der Gesellschaft erfasst, sie haben auch das politische System und dessen Akteure verändert. Das ist die neue These, die Sennett in seinem jüngsten Buch "Die Kultur des neuen Kapitalismus" seinem soziologischen Steinbruch hinzufügt. Die Transformation der in der Ökonomie entwickelten Strukturen in die Politik erläutert er mit einem Beispiel aus der Automobilindustrie.

    Riesige Unternehmen wie VW oder Ford produzieren unterschiedliche Versionen eines weltweit verkauften Autos - mit Grundplattformen für Chassis, Motor und andere Bauteile, - die sie dann durch oberflächliche Unterschiede "vergolden". Die Plattformproduzenten stehen vor dem Problem, wie sie die Differenzierung des Produkts profitabel gestalten können. Volkswagen muss seine Kunden davon überzeugen, dass die Unterschiede zwischen einem bescheidenen Skoda und einem hochprozentigen Audi - die etwa 90 Prozent der industriellen DNA gemeinsam haben - den doppelten Preis für das teure Modell rechtfertigen.

    Die Politik, behauptet Sennett, stehe vor einem ähnlichen Problem. Der neoliberale Konsens bilde hier die gemeinsame Plattform, und die Parteistrategen stünden vor dem Problem, marginale Unterschiede so aufzublasen, dass sich damit sogar die Illusion eines Richtungswahlkampfs kreieren ließe. Nach den Methoden der Werbeindustrie werde auch in der Politik die Differenz um so stärker betont, je geringer sie in der Realität ausfalle. Dem auf Illusionen und Zuschreibungen beruhenden Markenkonzept entspreche in der Politik die Personalisierung, die wiederum eine Zentralisierung der Macht in den Parteizentralen zur Folge habe. Die Parteiführer verhielten sich wie moderne Manager, deren Handeln auf schnellen Gewinn ziele und die an Stetigkeit und langfristigen Konzepten kein Interesse hätten. Da das System keinerlei Verlässlichkeiten produziere, könnten seine Repräsentanten auch nicht auf Vertrauen hoffen. Der Bürger sei bei dieser Transformation in eine passive Konsumentenrolle geraten, Bürger- und Gemeinsinn ruiniert worden.

    Das ist plausibel und liest sich wie die Beschreibung des aktuellen Wahlkampfs in der Bundesrepublik. Aber ist die Entpolitisierung der Politik wirklich eine Folge der New Economy? Gibt es das Problem der nur noch marginalen Unterschiede zwischen den Parteien nicht bereits seit dem Zeitpunkt, an dem die sich entschlossen "Volksparteien" zu sein? Und dass es auf den Kanzler ankomme, verkündeten die Profis des Politmarketings bereits zu Zeiten, als die Menschen noch in der scheinbaren Geborgenheit von Institutionen lebten, die Sennett in Anlehnung an Max Weber als "stahlharte Gehäuse" bezeichnet.

    Gemeint ist damit der bürokratisierte Sozial- und Wohlfahrtsstaat, der Ende des 19. Jahrhunderts den Manchester Kapitalismus abgelöst und Institutionen geschaffen habe, die zwar nach den Prinzipien von Befehl und Gehorsam organisiert gewesen seien, aber den Unterprivilegierten dennoch neue Freiheiten gebracht hätten. Sennett singt eine nostalgische Hymne auf jene schöne alte Welt, in der die Geschäfts- und Arbeitsbeziehungen reguliert worden seien, Aufstiegschancen und Lebenswege kalkulierbar gewesen seien, die gesellschaftliche Integration ebenso befördert worden sei wie die Identifikation des Arbeitnehmers mit seinem Betrieb. Die Schattenseiten dieser miefigen Idylle, die Emanzipation und Selbstbestimmung systematisch verhinderte, viele Arbeitnehmer in stupide und unwürdige Arbeitsabläufe zwang, und die in Zyklen Massenarbeitslosigkeit und Armut produzierte, blendet Sennett aus.

    Nach dem Scheitern des Weltwährungssystems von Bretton - Woods im Jahre 1973 sei das Finanzkapital global mobil geworden und habe nach Anlagemöglichkeiten gesucht, die einen schnellen Gewinn garantierten. Diese Entwicklung, die durch die zu dieser Zeit bereitgestellten neuen Technologien begünstigt worden sei, habe das Ende des sozialen Kapitalismus als industrielle Leitkultur eingeläutet. Der shareholder value sei nun zur Leitschnur aller Unternehmensentscheidungen geworden, die Produktion sei dynamisiert, Organisationen verflacht worden, handwerkliche Spezialisierung durch oberflächliche Generalisierung, Qualifikationen durch Potenziale und Betriebsbindungen durch flüchtige Beschäftigungsverhältnisse ersetzt worden. Kurz: Der neue Kapitalismus habe jene Kultur hervorgebracht, in der nur noch der eingangs beschriebene "flexible Mensch" bestehen könne. Wer über dessen Eigenschaften nicht verfüge, werde marginalisiert und mit einem Gefühl der Nutzlosigkeit allein gelassen.

    Das trifft alles zu, und dennoch ergibt sich daraus keine hinreichende Beschreibung der Wirklichkeit. Wie groß ist eigentlich der Sektor des Beschäftigungssystems, der von den Spielregeln der New Economy infiziert ist? Was bedeutet es, dass gegen den Trend sowohl von Produzenten wie von Verbrauchern wieder vermehrt Qualitätsarbeit nachgefragt wird? Welchen Stellenwert haben Betriebe, die gezielt Mischungen aus sehr jungen und routinierten älteren Arbeitnehmern herstellen? Und warum fallen die Antworten auf die Herausforderungen des neuen Kapitalismus so unterschiedlich aus wie in den USA und Skandinavien? Für Antworten auf solche Fragen findet man bei Sennett keinerlei Hinweise. Sein Buch interpretiert alle Beobachtungen nach den Regeln eines fatalistischen Funktionalismus, der politischer und sozialer Phantasie jeden Raum nimmt.

    Das Aufknacken der "stahlharten Gehäuse", befindet Sennett, habe die Freiheit paradoxerweise verringert. Was aber, wenn die Freiheit gar nicht in der Arbeit, sondern nur als Freiheit von der Arbeit zu haben ist? Die Vorstellung, dass es eine Kultur der Gesellschaft geben könnte, die nicht von der Erwerbsarbeit strukturiert und dominiert wird, liegt außerhalb des Vorstellungsvermögens des Soziologen. Deshalb liefert sein Buch interessantes Material für die Analyse neoliberaler Deregulierung und deren Folgen, trägt aber nichts zur Diskussion von Alternativen oder Gegenstrategien bei.

    Hermann Theißen war das über "Die Kultur des neuen Kapitalismus" von Richard Sennett, übersetzt aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Das im Berlin Verlag erschienene Buch hat 160 Seiten und kostet 18 Euro.