Seine Anfänge als Lohnschreiber bilanzierte Jean Améry nicht ohne Bitterkeit. Die "Suche nach einer Existenz", auf die er sich 1945, befreit aus dem Konzentrationslager, begab, trat erst Mitte der sechziger Jahre in das entscheidende Stadium: Nach dem Durchbruch mit den zuerst vom Rundfunk gesendeten Essays des Bandes "Jenseits von Schuld und Sühne" wurde er in Westdeutschland als Autor wahrgenommen, der etwas zu sagen hat: über die Folter und die Erfahrung des Intellektuellen in Auschwitz, über das von den Nazis aufgezwungene Judesein und die Heimatlosigkeit des Exils, über seine Vorbehalte gegen die deutsche "Vergangenheitsbewältigung". Der "Artikelfron entronnen" konnte Améry, der mit einem Mal ein gefragter Autor war, fortan selbstbestimmter arbeiten.
Der siebte Band der Werkausgabe, herausgegeben von Stephan Steiner, versammelt Schriften, die - bis auf zwei Ausnahmen - in der Zeit nach dem Durchbruch entstanden sind, das heißt zwischen 1966 und 1978, dem Jahr des Selbstmordes. Steiner im Nachwort:
Dass sich so viele seiner Texte gegen ihren Entstehungszusammenhang behaupten und über die Jahre mehr Interesse erwecken als zum Zeitpunkt ihres schnellen Auftauchens und Verschwindens, ist mehr als erstaunlich.
Grunderfahrungen von Amérys Schreiben blieben die Folter und das Vernichtungslager. Diese Themen - nicht Themen wie andere auch, sondern Lebensthemen -, bilden das Gravitationszentrum seines Denkens und scheinen in vielen Texten durch, gewiss. Doch der Herausgeber warnt im Nachwort davor, in Améry nur das - wie dieser selbst einmal formulierte - "Berufs-Opfer" oder den Selbstmordkandidaten zu sehen. Stephan Steiner macht auf den einigermaßen unbeschwerten, ja beinahe "glücklichen" Améry aufmerksam, der dem Leser dieser Schriften entgegentritt: "aktivistisch, den Puls der Zeit fühlend, nicht selten hoffnungsgeladen".
Das Spektrum der Themen ist schillernd. Die Überschriften der vom Herausgeber eingerichteten Kapitel deuten an, worum es dem Zeitgenossen Améry in der Hauptsache ging, in welchen Angelegenheiten der Publizist Améry um seine Meinung gefragt wurde: "Das Dritte Reich als Erfahrung und Drohung", "Antizionismus als neuer Antisemitismus", "Alte Linke – Neue Linke", "Fragmente einer Biographie des Zeitalters". Die Überschriften der mehr als sechzig Texte geben weitere Auskunft: "Reise ans Ende der Revolution", "Vorurteile gegenüber Emigranten", "Müssen Revolutionäre Flegel sein?", "Für eine Volksfront dieser Zeit", "Grenzen der Solidarität (mit Israel)" und so weiter. Da liest man kreuz und quer, taucht ein in die Gedankenwelt dieses so klugen, aufrechten, melancholisch gestimmten Autors und fragt sich, was man denn hervorheben solle, ohne nach subjektiver Willkür zu verfahren.
Von besonderem Interesse sind die Texte, die unter der Überschrift "Terrorismus" beziehungsweise "Gewalt und Gegengewalt" stehen. Améry, gegen den ein Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung eingeleitet wurde, nur weil er in Werner Höfers "Frühschoppen" den hungerstreikenden RAF-Häftlingen geraten hatte "Nicht aufgeben!" - Améry fand klare Worte gegen die "Rote Armee Fraktion". Junge Leute, die das Land, das von einem Kanzler namens Willy Brandt regiert wurde, mit einer lateinamerikanischen Diktatur, gar einem "neuen Faschismus" verwechselten, erschreckten ihn. Er war von derselben unbestechlichen analytischen Klarheit, wenn es um die Gewalt der Unterdrückten ging: Im Kampf jüdischer Ghettobewohner oder kolonialisierter Völker sah er "Die Geburt des Menschen aus dem Geiste der Violenz", so der Titel eines Aufsatzes über Frantz Fanon.
Obgleich Améry frühzeitig die "Grenzen politischer Gewaltphilosophie" diskutierte, machte er sich später den Vorwurf, nicht präzise und unmissverständlich genug zwischen legitimer und illegitimer Gewalt unterschieden zu haben. Aber auch da, wo er sich als so genannter "Helfershelfer" und "Sympathisant" seiner intellektuellen Verantwortung stellte, legte er eine Souveränität an den Tag, die Seltenheitswert hat:
Die Tendenz zur Vertuschung und zur Leisetreterei, die sich der deutschen Linksintellektuellen bemächtigt hat, ...erfüllt mich mit tiefem Unbehagen... Zweierlei haben wir (Helfershelfer) auf der Stelle zu unternehmen: Den Denunzianten gegenüber müssen wir beharren auf unserem unveräußerlichen Recht zu sagen, was wir denken... Uns selbst aber müssen wir fragen, ob wir immer richtig gedacht und das Gedachte klar genug ausgedrückt haben...
Neben den Aufsätzen finden sich die - teils offenen - Briefe an den ehemaligen SS-Freiwilligen und Schriftsteller Hans Egon Holthusen, an Erich Fried, Simon Wiesenthal, Albert Speer oder Golo Mann. Briefe, aus denen der im Brüsseler Exil Lebende als genauer Beobachter und leidenschaftlicher Teilnehmer der politischen Szene spricht.
Weil Améry die vorliegenden Aufsätze dem "Terror der Aktualität" abgewann, handeln sie von Dingen, die heutige Leser durchaus angehen. Wie aber kommt es, dass er selbst mit jenen Texten in seinen Bann schlägt, die man heute nur noch als historische wahrnimmt. Es ist die Art des Denkens, die diesen Autor so überaus lesenswert macht: Sein dialogisches Schreiben, das andere Positionen einbezieht und Widersprüche sichtbar macht; seine unablässige, auf Distanz gehende Selbstbefragung; seine "gelebte Nachdenklichkeit", die sich weder von anderen noch von sich selbst etwas vormachen lassen will; die Klarheit des Gedankens und dessen genaue Formulierung; die Rationalität und ideologische Unbestechlichkeit; der Gestus des skeptischen Aufklärers und radikalen Humanisten, der zuweilen mit moralischer Verve daherkommt - und dabei doch auf Schwärmerei und Idealismus verzichtet; schließlich die Ernsthaftigkeit eines hochbelesenen Autors, der ohne jedes Bildungsgehabe auskommt.
Es gibt Menschen, die gerade, indem sie fehlen, auf eigentümliche Weise präsent sind - schrieb der Romanist Hans-Martin Gauger kürzlich in der Zeitschrift Merkur. Seine Anmerkungen zur Améry-Biographie von Irene Heidelberger-Leonard stehen unter dem Titel: "Er fehlt uns, er ist da." Ja, das kann man sagen, er ist da - nun auch in Gestalt einer Werkausgabe, die einen europäischen Intellektuellen, einen modernen Klassiker zur Geltung bringt.
Horst Meier besprach den 7. Band der Jean Améry-Gesamtausgabe, die "Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte", sie erscheinen im Verlag Klett Cotta. Der Band kostet 34 Euro.
Stephan Steiner (Hg.): Jean Améry, Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte
Werke, Band 7
Klett-Cotta, Stuttgart, Oktober 2005, 600 Seiten, 34 Euro